Helmut Schelsky
Helmut Schelsky (* 14. Oktober 1912 in Chemnitz; † 24. Februar 1984 in Münster) war der einflussreichste Soziologe der westdeutschen Nachkriegszeit bis zur Studentenrevolte ausgangs der 1960er Jahre; als Publizist und Herausgeber war er ungemein fruchtbar.
Die – auffällige und genuine – soziologische Urteilskraft und Tatenlust des Studenten an der Universität Leipzig wurde von Hans Freyer und Arnold Gehlen entdeckt und für die Soziologie gewonnen. Er promovierte (noch sozialphilosophisch) 1935 in Leipzig („Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes Naturrecht von 1796“), habilitierte sich 1939 für „Soziologie“ mit dem Thema „Die politische Lehre von Thomas Hobbes“ an der Universität Königsberg und wurde 1944 als außerordentlicher Professor an die (damals deutsche) Reichsuniversität Straßburg berufen (ein Amt, das er als 1941 eingezogener Soldat nicht antrat). Unmittelbar nach Kriegsende baute er den „Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes“ auf. 1949 wurde er als Professor für Soziologie an die (damals) „Hochschule für Arbeit und Politik“ berufen (geplant damals als eine Art sozialdemokratische ‚Arbeiter- und Bauernfakultät‘), 1953 an die Universität Hamburg. 1960 wurde er an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster berufen. In dieser Position leitete er zugleich die kopfreichste empirisch-soziologische Forschungsstätte jener Jahre, die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund. Er war der Spiritus Rector der gegen Widerstände in Bielefeld neu gegründeten Reform-Universität und sorgte dafür, dass dort die erste „Soziologische Fakultät“ der Bundesrepublik errichtet wurde. Bereits im Kampf um den ostwestfälischen Standort von der Paderborner CDU als ehedem nationalsozialistischer Student enttarnt, trat er von allen Ämtern zurück, wurde aber nichtsdestoweniger 1970 als Gründungsrektor der Bielefelder Universität neu berufen, wo er das – als ein ‚deutsches Harvard‘ angelegte – „Zentrum für indisziplinäre Forschung“ (am Standort Rheda) gründete. Dann aber überwarf er sich in mit seiner eigenen Gründung und kehrte 1973 nach Münster zurück, wo er 1978 emeritiert wurde. Er schrieb noch kämpferische Großessays gegen die in seinen Augen eine utopische Erziehungsdiktatur anstrebende Soziologen der Revoltezeit, vereinsamte aber bis zu seinem Tode.
Die Leipziger Schule um Hans Freyer förderte und lenkte ihn zugleich. Der ursprünglich jugendbewegte, stark „bündisch" denkende (und durchaus opportunistische) Freyer wollte in der Zeit des Nationalsozialismus sein Universitätsinstitut zur sozialwissenschaftlichen Ideengeberin für das ‚Dritte Reich‘ machen, indes die meisten deutschen etablierten Soziologen (so Ferdinand Tönnies, Leopold von Wiese, Karl Mannheim) den Nationalsozialismus ablehnten und zumal der tüchtigste Nachwuchs (so René König, Paul Lazarsfeld, Norbert Elias, Theodor W. Adorno, Rudolf Heberle, Lewis A. Coser u. a. m.) früher oder später emigrierte oder doch praktisch verstummte (so Max Graf Solms). Dieser Ehrgeiz scheiterte politisch am Ideologiemonopol der NSDAP, trotz etlicher Karrieren Leipziger Soziologen. Auf der Suche nach einem eigenen Forschungsfeld war Schelsky zwischen drei fast noch bedeutenderen Köpfen (dem brillanten Rechtshegelianer Hans Freyer, dem kommenden wirkungsvollen „Philosophischen Anthropologen“ Arnold Gehlen und dem später emigrierenden innovativen Philosophen Gotthard Günther) etwas eingeklemmt und auf die angewandte Soziologie gedrängt. Seine künftig (auch für die Rechtswissenschaft) wirkungsreiche Theorie der Institutionen schrieb er sehr bald nach Kriegsende, danach auch Grundsätzliches zur Schichtung – begann aber dann in Hamburg eine Kette von für die westdeutschen Aufbauprobleme anwendungsorientierten (und viel gelesenen) Veröffentlichungen. Sie widmeten sich sämtlich aufkommenden Themen, die er voraus zu sehen sehr begabt war, erst zur Familiensoziologie, dann zur Soziologie der Sexualität, zur Industriesoziologie, zur Jugendsoziologie, zur Soziologie der Erziehung und zur Soziologie und Ideengeschichte der deutschen Universität und erzielte viele Auflagen. In Dortmund leitete er zugleich eine empirietüchtige Talentschmiede der später erst, in den 1970er Jahren, an den deutschen Hochschulen sich durchsetzendenn Soziologie. Persönlich habilitierte er 17 Soziologen – ein liberaler und gelegentlich zynischer Talentaufspürer, auffällig desinteressiert am Aufbau einer eigenen „Schule“ und für viele sehr unterschiedliche Begabungen attraktiv (so z. B. für Heinz Hartmann, Dieter Claessens, Franz-Xaver Kaufmann und Niklas Luhmann). Damit war er professionspolitisch für die deutsche Soziologie (auch was kommende Lehrstuhlbesetzungen anging) erfolgreicher als die nach 1945 zurück gekehrten renommierten René König (vgl. die „Kölner Schule“) und Otto Stammer, während die Frankfurter Schule sich überhaupt erst nach 1968 durchzusetzen vermochte. Dass aber seine eigene Gründung, die Universität Bielefeld, auf ihn nicht mehr hören wollte, zeichnete ihn – trotz hohen Anklangs seiner daraus resultierenden Intellektuellenkritik in konservativen Kreisen – für den deprimierten Rest seines Lebens tief, während seine Analysen gerade wegen ihres Aktualitätswertes in den ‚Goldenen Jahren‘ der Bundesrepublik Deutschland fast vergessen wurden und erst um 2000 wieder einige Beachtung fanden.
Lebenslauf
Wirkung
Ausgewählte Publikationen