Gemeinschaft
Unter Gemeinschaft versteht man die zu einer Einheit zusammengefassten Individuen (Gruppe), wenn die Gruppe emotionale Bindekräfte aufweist und ein Zusammengehörigkeitsgefühl (Wir-Gefühl) vorhanden ist.Häufig wird das Wort auch benutzt, wenn die emotionalen Bindekräfte erst entstehen sollen, z.B. Europäische Gemeinschaften. Gelegentlich wird eine programmatische Aussage mit der Benutzung des Wortes getroffen.
Die kleinste Gemeinschaft ist die Familie ungeachtet ihres rechtlichen Rahmens. An ihr wird bereits deutlich, dass Gemeinschaften aufgrund freier Willensentscheidung entstehen können (Ehepartner). Andererseits kann man ohne freie Willensentscheidung in eine Gemeinschaft hineingeboren werden (Kinder). Die Freiheit, aus einer Gemeinschaft auszutreten, kann unterschiedlich klein oder groß sein. Gelegentlich wird der Austritt aus der Gemeinschaft moralisch diskreditiert.
Neben den Extremen der freien Willensentscheidung und des Hineingeborenwerdens gibt es in der Praxis viele Gemeinschaften, bei denen die freie Willensentscheidung so eingeschränkt ist, dass sie kaum wahrnehmbar ist, ohne dass man hineingeboren wird. Ein Beispiel hierfür ist die Klassengemeinschaft in der Schule. Auch Schicksalsgemeinschaften zählen zu den Gemeinschaften, etwa zunächst wildfremde Menschen, die sich aufgrund eines Unfalls z.B. im Rettungsboot über längere Zeit gegenseitig helfen.
Kriterien für Gemeinschaften sind:
- Klare Festlegung der Zugehörigkeit und damit Abgrenzung zum "Rest der Welt"
- Solidarität der Gemeinschaftsangehörigen untereinander (Primat des Gemeinschaftsinteresses vor dem Individualinteresse)
- Emotionale Bindungskräfte (Wir-Gefühl)
- Nicht nur kurzzeitige Existenz der Gemeinschaft
- Vertrautheit der Gemeinschaftsangehörigen (gilt auch für anonyme Großgemeinschaften wie Völker)
Grundsätzlich drücken Gemeinschaften mehr Zusammengehörigkeit aus als bloße Gesellschaften, bei denen die gemeinsame Interessensvertretung im Vordergrund steht.
Siehe auch: Community
Table of contents |
2 Besondere Gemeinschaftsformen 3 Literatur |
Eine besondere Untersuchung über Gemeinschaft und Gesellschaft stammt von dem deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) im gleichnamigen Werk von 1887 (viele Auflagen). Tönnies entwickelte darin den Ansatz, dass Gemeinschaft und Gesellschaft beide den Gegenstand der (von ihm damit in Deutschland damit begründeten) Soziologie ausmachten. Beides sind ihm Formen sozialer Bejahung, wobei der Wille, sich als einen Teil eines Kollektivs zu sehen (sich selbst notfalls als Mittel, das Kollektiv als Zweck – der Wesenwille), Gemeinschaften ausmache – indes der Wille, sich eines Kollektivs als Mittel zum eigenen Nutzen zu bedienen (der Kürwille), Gesellschaften konstituiere. In der Reinen Soziologie der Begriffe schlössen also die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft einander aus (er nennt solche Begriffe Normaltypen); in der empirischen Welt, dem Feld der Angewandten Soziologie, erscheinen sie hingegen nach Tönnies immer gemischt.
In seinem Spätwerk Geist der Neuzeit wandte Tönnies diese Begriffe an und folgerte, dass im (europäischen) Mittelalter die Gemeinschaft die vorwiegende Anschauungsweise gewesen sei, in der man Kollektive verstanden habe, dass sich dies aber mit der Neuzeit zu Gunsten der Anschauung gewandelt habe, alle Kollektive eher als Gesellschaft zu verstehen.
Der französische Soziologe Emile Durkheim traf die berühmt gewordene Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Mechanische Solidarität beruht auf der Gleichheit der Mitglieder, organische Solidarität auf der Unterschiedlichkeit. Mit mechanischer Solidarität wird die Unterscheidung nach außen deutlicher ("Wir Arbeiter", "Wir Deutschen", "Wir Frauen"), während in der organischen Solidarität die gegenseitige Ergänzung (Arbeitsteilung)zu einer Einheit deutlich wird (Mann und Frau in der Familie, verschiedene Spezialisten in der Arbeitsgemeinschaft). Dauerhafte Gemeinschaften haben sowohl mechanische als auch organische Elemente.
Der deutsche Soziologe Max Weber erörtert "Vergemeinschaftung" in Wirtschaft und Gesellschaft.
Religionsgemeinschaften, Ordensgemeinschaften (sollte jemand ergänzen)
Bei Sportgemeinschaften wird das Füreinandereintreten im Mannschaftssport besonders wahrnehmbar. Bei Extremsportarten wie Bergsteigen wird die Verlässlichkeit der Gemeinschaftsmitglieder zu einem wesentlichen Element.
Die Volksgemeinschaft entstand während des ersten Weltkriegs als Begriff für den Zusammenhalt der Nation. Auslöser waren die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD und die Kaiser-Aussage "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." In der Weimarer Republik stritten sich die Parteien um den Begriff. Noch 1933 sprach Otto Wels in seiner berühmten Rede gegen das Ermächtigungsgesetz davon, dass die SPD die wirkliche Volksgemeinschaft wolle, während Adolf Hitler mit exakt der selben Wortwahl ankündigte, die wirkliche Volksgemeinschaft nunmehr zur verwirklichen.
Wirtschaftliche Gemeinschaften wie z.B. Gemeinschaft Dämmstoff Industrie haben meistens nur das Wort im Namen und sind meistens reine Interessensvertretungen. Zumindest bei der Gründung war aber i.a. der Gedanke dabei, dass man ein Gemeinschaftsgefühl aus gleichartiger Tätigkeit und eine Solidarität der Mitglieder schaffen könne.
Die Versicherten-Gemeinschaft empfindet im allgemeinen wenig Solidarität, aber dennoch handelt es sich um eine Solidargemeinschaft. Allerdings ist der Gedanke meist verlorengegangen, dass z.B. eine Brandversicherung nichts anderes bedeutet, als dass die Masse der Nicht-Brandgeschädigten (durch ihre Beiträge) den Brandgeschädigten unterstützt.
Lebensgemeinschaften aller Art sind auf die gesamte Dauer des Lebens angelegt. Neben der Ehe zählen dazu z.B. auch die Burschenschaften von Verbindungsstudenten.
Lars Clausen, Gemeinschaft, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorf, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart (Lucius & Lucius) ²2002, S. 183-185, ISBN 3-8282-0172-5
siehe auch:
Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, 1935, 2. Aufl. 1998 im Rahmen der kritischen Ferdinand-Tönnies-GesamtausgabeSoziologische Theorie
Besondere Gemeinschaftsformen
Ferdinand Tönnies nennt als typisch Verwandtschaft, Nachbarschaft (der Begriff ist bei ihm vom Dorf bis hin zur griechischen Polis anwendbar) und Freundschaft.Literatur