Homo sociologicus
Homo sociologicus (lateinisch: "der soziologische Mensch") ist ein für die Soziologie geprägter Begriff, um den Menschen in seinem Dasein als gesellschaftliches Wesen zu analysieren (im Kontrast zum volkswirtschaftlichen Konzept des Homo oeconomicus).Der Begriff geht auf Ralf Dahrendorf zurück, der ihn 1958 mit der gleichnamigen Untersuchung als "Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle" vorlegte und erfolgreich in der deutschen Soziologie etablierte. Der homo sociologicus ist nach ihm das Gesamt seiner sozialen Rollen, die ihrerseits von Normen (nach Dahrendorfs - juristisch inspirierter - Einteilung: Muss-, Soll- und Kann-Normen), von Erwartungen und von (belohnenden, bestrafenden) sozialen Sanktionen anderer (auch: des Rollenträgers selbst) geprägt werden. Entsprechend handelt er in Kompromissen, die er selber findet.
Diese Rollen selbst sind die Weisen, in der homo sociologicus die soziale Position ausfüllt (auch zu ändern vermag), in der er je und je steht - Positionen sind also als Leerstellen für Rollenträger aufzufassen. (Vgl. dazu die ausgefeilte Diskussion zur sozialen Rolle in den USA seit Ralph Linton 1936, früh z. B. bei Robert K. Merton ("Inter-" vs. "Intra-Rollenkonflikte"), und noch in den 1990er Jahren z. B. bei Rose Laub Coser.)
Der homo sociologicus wirft auch ein Problem für die "Philosophische Anthropologie" auf: die Frage nach dem Widerspruch zwischen dem von Anderen beeinflussten Rollenhandeln einerseits und der Autonomie ("Willensfreiheit") des Individuums anderseits. Es geht also um das nicht erst seit dem 19. Jahrhundert (dort z. B. von Hegel, Marx und Tönnies) erwogene Paradox zwischen Notwendigkeit und Freiheit des menschlichen "Willens". Zugespitzt: Was bleibt, wenn man vom Menschen 'an sich' den homo sociologicus abzieht? "Der Mann ohne Eigenschaften" (nach Robert Musil)? Dahrendorf prägte dafür das viel zitierte Schlagwort von der "ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft".
Dahrendorf hat mit dieser Schrift der 1958 mit der Rollenthematik noch ganz unvertrauten deutschen Soziologie ein ausgezeichnetes Analyseinstrument vorgeschlagen. Eine intensive fachliche Diskussion (so durch Judith Janoska-Bendl, Erhard R. Wiehn, Dieter Claessens) schloss sich an. Ihr Erfolg kollidierte mit Deutungen nach Karl Marx ("Charaktermaske") und wurde also in der Revoltezeit nach 1967 von marxistischer Seite bekämpft (Frigga Haug). Uta Gerhardt schloss dann - 1971 - diese Diskussion mit ihrer Habilitationschrift "Rollenanalyse als kritische Soziologie" so umfassend und nachhaltig ab, dass der deutsche "Rollen"-Diskurs, trotz gelegentlich beachtlicher Beiträge (Gottfried Eisermann), praktisch bis zur Jahrtausendwende erlosch und sich erst seither wieder belebt.