Enzyklopädiekritik
Als Enzyklopädiekritik bezeichnet man zusammenfassend Ansätze, die entweder das Vorhaben der Enzyklopädie an sich grundsätzlich in Frage stellen, oder in der Enzyklopädik konkrete Einzelaspekte kritisieren.Die Enzyklopädiekritik ist eng verwandt mit anderen kritischen Teildisziplinen der Wissenschaften wie der Wissens- und Wissenschaftskritik sowie der Erkenntnis- und Wissenstheorie.
Bert Brecht bringt die Enzyklopädiekritik in einer Miszelle knapp auf den Punkt:
- Wem nützt der Satz?
- Wem zu nützen gibt er vor?
- Zu was fordert er auf?
- Welche Praxis entspricht ihm?
- Was für Sätze hat er zur Folge? Welche Sätze stützen ihn?
- In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem?
Die fundamentalste Kritik am Vorhaben der Enzyklopädie speist sich aus der Tradition des radikalen Skeptizismus, der die Möglichkeit von Erkenntnis grundsätzlich in Frage stellt. Jedes enzyklopädische Vorhaben wäre demnach sinnlos, da es gar keine grundlegenden Wahrheiten geben kann. Modernere und gemäßigtere Formen des Skeptizismus stellen die Erkennismöglichkeit nicht mehr grundsätzlich in Frage, fordern jedoch die kritische Prüfung von Hypothesen und zweifeln damit die Idee der Enzyklopädie an, als gesichert angesehenes Wissen zu sammeln und ohne kritische Diskussion zu präsentieren.
Aus diesem Ansatz entwickelte Pierre Bayle (1647-1706) die Idee einer Art Anti-Enzyklopädie, die nicht einen als gesichert bezeichneten Wissens- und Forschungsstand darstellt, sondern gegensätzliche Positionen einander gleichgeordnet oder sie gegeneinander abwägend gegenüberstellt. In seinem "Dictionaire Historique et Critique" (DHC, 2 Bände 1695/1696, 4 Bände 1702, 1820 in 4 bzw. 16 Bänden; dt. Übers. Historisches und kritisches Wörterbuch) unternimmt er eine streng quellenkritische Sichtung des theologischen, philosophischen und historischen Wissens seiner Zeit; das Buch wurde unmittelbar nach Erscheinen von der Zensur verboten. Dennoch findet das Dictionaire seine Leser und wird zur "Bibel der Aufklärung", Wilhelm Dilthey spricht sogar von der "Rüstkammer der Aufklärung". Paul Michel: "Jeder Meinung gesellt er sofort eine Gegenmeinung bei, um dem Benutzer selbständiges Denken abzunötigen. Die Paradoxien, die er in seinen Fussnoten erzeugt, führen mitunter freilich in die Nähe einer bodenlosen Skepsis." ([1]). Die Faktenlabyrinthe, die Bayles erschafft, bewirken genau das Gegenteil, was eine normale Enzyklopädie versucht:
Ein weiterer grundsätzlicher Kritikpunkt an der Enzyklopädie bezieht sich auf deren Totalitätsanspruch; traditionell versucht die Enzyklopädie "das Wissen der Welt" (Brockhaus) oder den Kreis der Wissenschaften (Artes liberales) abzubilden; die Enzyklopädiekritik fragt, ob dies überhaupt möglich sein kann und welchen Umfang und welche Form eine Enzyklopädie haben muss, die diesem Anspruch genügen kann, ob also die 24 Bände der aktuellen Brockhaus-Enzyklopädie (1996-1999) dafür ausreichen, oder die 64 Bände von Zedlers Grossem vollständigen Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden (1732-1754) oder gar die 242 Bände von Krünitz' Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft in alphabetischer Ordnung (1773 ff.) notwendig sind.
Der Nutzen einer Enzyklopädie wird durch die grundlegende Beschränkung in Frage gestellt, dass sich in ihr nur finden lässt, worüber bereits ein Vorwissen vorhanden ist. Während sich einfache Fragen über bekannte Phänomene (z.B. "Wie lang ist der Missisipi?") leicht nachschlagen lassen, fehlt zu Informationen über die nur vagen Vorstellungen bestehen ("In welchem Film war das nochmal mit dem lustigen Rätsel über Taubenarten?") der Zugang oder die Sprache ("In welchem Stück kommt das berühmte 'ta-ta-ta-taaam' vor?"). In der Regel muss der Benutzer einer Enzyklopädie zumindest ein relevantes Schlagwort wissen, um darunter weitere Informationen nachzuschlagen. Diese Kritik gilt ebenso für die Suchen in strukturierten Datenbanken.
Eine teilweise Lösung des Problems bieten Methoden des Information-Retrieval, mit denen sich unter anderem große Mengen (meist textueller) Informationen mit einer Suchmaschine durchsuchen lassen. Eine weitere Erleichterung verschafft die Vernetzung von verwanden Gebieten mittels Hypertext. Durch die Möglichkeit der freien Verlinkung müssen Wissensgebiete nicht mehr alphabetisch oder hierarchisch geordnet sein, so dass über verschiedene Einstiegspunkte an die gesuchte Information gelangt werden kann.
Paul Michel stellte einen Katalog von 13 konkreten Gesichtspunkten mit Anlässen und Beweggründen zur Enzyklopädiekritik in der Vormoderne zusammen:
Ansätze und Beweggründe zur Kritik
Grundlegende Kritik
Totalitätsanspruch und Umfang
Aktualität und Zeitbezug
Quellen des Wissens
Glaubwürdigkeit der Autoren
Wissensorganisation und Information Retrieval
Aufbau der einzelnen Artikel
Weitere Ansätze zur Enzyklopädiekritik
Weblinks
Literatur