Lorentz-Transformation und Minkowski-Raum
Dieser Artikel beschreibt den gedanklichen Weg von der Lorentz-Transformation zum Minkowski-Raum und behandelt damit Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie, Einsteins Theorie der flachen Raumzeit.
Im Sinne von Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wellen (und insbesodere des Lichts) im Vakuum konstant, d.h. unabhängig von der Relativgeschwindigkeit des Beobachters zur Strahlenquelle.
Damit verliert die klassische Galilei-Transformation ihre Gültigkeit und muss durch neue Überlegungen ersetzt werden.
In einem Bezugssystem S finde in einem Punkt P (x, y, z) zur Zeit t irgendein Ereignis (von der Dauer null) statt. Man kann dann (x, y, z, t) als die "Koordinaten" des Ereignisses E bezeichnen. (Ein zeitlich andauernder Vorgang kann durch zwei Ereignisse - seinen Beginn und sein Ende - eingegrenzt werden.)
Ein anderes Bezugssystem S' bewege sich (wie üblich) relativ zu S mit der Geschwindigkeit v in Richtung der (gemeinsamen) positiven X-Achsen.
Im Bezugssystem S' habe der Punkt P die Koordinaten (x', y', z'), und der Zeitpunkt des Ereignisses sei t'.
Ist das Ereignis bzw. der Vorgang im System S ortsfest (Beispiel: Das Schließen einer Bahnschranke in S), dann sind seine Koordinaten in S konstant; in S' dagegen verändert sich wegen der Bewegung von S' seine x'-Koordinate, und umgekehrt (Beispiel: Das Schließen einer Abteiltür im vorüberfahrenden Zug). Es sind aber auch Ereignisse denkbar, die in beiden Systemen ortsfest sind, so z.B. der Start eines Lichtsignals an einem bestimmten Punkt P, wobei es nach der Relativitätstheorie gleichgültig ist, ob die Lampe, von der das Signal ausgeht, in dem einen oder in dem anderen Bezugssystem befestigt ist. In einem solchen Fall spaltet sich der Punkt P gleichsam in zwei Punkte P und P' auf, wobei P in S und P' in S' ortsfest ist. (Gerade dieser Fall wird oft zu wenig beachtet, wenn Anfänger sich mit den Grundlagen der Speziellen Relativitätstheorie vertraut machen wollen.)
Die Umrechnung der Koordinaten eines Ereignisses von einem Bezugssystem auf das andere regelt die Lorentz-Transformation. Unter der üblichen Annahme, dass zur Zeit t = t' = 0 die Ursprünge O und O' der Bezugssysteme zusammenfallen, lauten ihre Gleichungen:
Führt man durch die Substitutionen w = c t und w' = c t' die neuen Variablen w und w' ein, so werden die Gleichungen der Lorentz-Transformation symmetrisch hinsichtlich der Variablen x und w bzw. x' und w':
In ihrer neuen Form besitzt die Lorentz-Transformation neben der soeben genannten Symmetrie weitere wichtige Eigenschaften.
Es lässt sich zeigen, dass die Gleichungen der Lorentz-Transformation unter zwei Bedingungen identisch sind mit den aus der Analytischen Geometrie bekannten Transformationsgleichungen zwischen einem rechtwinkligen und einem schiefwinkligen Koordinatensystem, dessen Achsen um den gleichen Winkel φ in entgegengesetzten Richtungen gedreht sind. (Ich beschränke mich dabei auf die Transformationsgleichungen für lediglich eine Richtung, nämlich von x' nach x und von t' nach t.)
Die Lorentz-Transformation
Im Folgenden beschränke ich mich auf die Gleichungen für x, x', t und t'.Die entscheidenden Substitutionen
Man beachte, dass die Variablen w und w' nicht mehr Zeiten, sondern Strecken darstellen, nämlich die Strecken, die das Licht in der Zeit t bzw. t' zurücklegt.Die Lorentz-Transformation als Transformation zwischen einem rechtwinkligen und einem schiefwinkligen Koordinatensystem
Abbildung 1 | |
Die Bedingungen für die Identität der Gleichungen lauten:
- Für den Drehwinkel φ muss gelten: tan φ = v/c
- Die Einheitsstrecken e' auf den gedrehten Achsen sind länger als die Einheitsstrecken e auf den rechtwinkligen Achsen, und zwar muss gelten:
Die beiden rechts gezeichneten Systeme S(X,W) und S'(X',W') können bei Bedarf jederzeit um eine Y- bzw. Y'-Achse ergänzt werden, wodurch zwei dreidimensionale Systeme entstehen. Dagegen ist die Ergänzung durch die Z/Z'-Achsen zu einem vierdimensionalen Raum zwar denkbar und mathematisch handhabbar, aber sie ist nicht vorstellbar und auch zeichnerisch nicht durchführbar, weil die von uns wahrnehmbare Realität und unser Vorstellungsvermögen auf drei Dimensionen beschränkt sind.
Der soeben beschriebene vierdimensionale Raum heißt Minkowski-Raum. Derselbe Name wird aber auch für die drei- bzw. zweidimensionalen Ausschnitte aus dem vierdimensionalen Minkowski-Raum benutzt, die dadurch entstehen, dass man auf die Dimension Z bzw. die Dimensionen Z und Y verzichtet.
Hermann Minkowski selbst hat diesen Raum schlicht als "die Welt" bezeichnet, weil er ihn für eine adäquate (wenngleich abstrakte) Darstellung der Realität hielt. Diese "Welt" sollte nach Minkowski an die Stelle des absoluten Raumes und der absoluten Zeit Newtons treten. Dieser kühne Gedanke führte zu einer wesentlichen, substanziellen Erweiterung der zunächst lediglich formalen Relativitätstheorie Albert Einsteins.
Jeder Punkt des vollständigen Minkowski-Raumes hat vier räumliche Koordinaten x, y, z, w, wovon die letzte Koordinate w = c t proportional der Zeit t ist, die dem entsprechenden Punkt zukommt.
Durch diese Vierdimensionalität ist es möglich, den Ort eines Ereignisses E, das im Punkt P(x, y, z) des dreidimensionalen Raumes unserer Erfahrung (unseres "Erfahrungsraumes") zur Zeit t stattfindet, durch einen Punkt E(x, y, z, w) im Minkowski-Raum darzustellen. Ein solcher Punkt E heißt Ereignispunkt. (Er wird oft auch kurz aber ungenau als Ereignis bezeichnet. Ein Ereignispunkt ist lediglich der Ort eines Ereignisses im Minkowski-Raum, nicht das Ereignis selbst.)
Ursprünglich ist die Lorentz-Transformation die Gesamtheit der relativistischen Transformationsgleichungen für den Übergang von einem Bezugssystem zu einem relativ dazu bewegten zweiten Bezugssystem. Nach dem oben Gesagten aber kann die Lorentz-Transformation auch aufgefasst werden als die Gesamtheit der Transformationsgleichungen für den Übergang von einem rechtwinkligen zu einem schiefwinkligen Koordinatensystem im Minkowski-Raum und umgekehrt . Das bedeutet: Der Übergang von einem Bezugssystem im dreidimensionalen Erfahrungsraum zu einem relativ dazu bewegten Bezugssystem ist gleichwertig mit dem Übergang von einem rechtwinkligen zu einem schiefwinkligen Koordinatensystem im vierdimensionalen Minkowski-Raum.
Die beiden Systeme S und S' sind keine üblichen Koordinatensysteme (sondern eben "Bezugssysteme"), da ihre X/X'-Achsen sich im Laufe der Zeit mit Lichtgeschwindigkeit auf der W- bzw. W'-Achse nach oben (bzw. schräg oben) bewegen, wobei die Nullpunkte 0 und 0' der X-, Y- und Z-Achsen auf der jeweiligen W-Achse entlang gleiten. Dies erklärt sich daraus, dass die W-Koordinate des Nullpunkts im Laufe der Zeit ständig wächt: w = c t. Dabei bewegt sich - wie im dreidimensionalen Erfahrungsraum - der Nullpunkt der X'-Achse mit der Geschwindigkeit v auf der X-Achse nach rechts.
Welche Bedeutung und welche Konsequenzen die bemerkenswerte Tatsache hat, dass die X-Achse und die X'-Achse nicht mehr zusammenfallen - obwohl sie doch im Erfahrungsraum aufeinander liegen - wird uns später noch beschäftigen.
Als Folge der unterschiedlichen Bewegungen von 0 und 0' bleiben die drei Koordinaten (x, y, z) und (x', y', z') irgendeines Ereignispunktes E im Minkowski-Raum im Laufe der Zeit unverändert. Die Frage, in welchem Bezugssystem das Ereignis "ortsfest" ist, erübrigt sich also: alle Ereignisse sind im Minkowski-Raum in allen Bezugssystemen ortsfest. Die Darstellung der Bezugssysteme im Minkowski-Raum entspricht also auch in dieser Hinsicht dem grundlegenden Relativitätsprinzip: Alle Bezugssysteme sind gleichwertig.
Der Minkowski-Raum erlaubt es, die grundlegenden Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie anschaulich zu machen: die Relativität der Gleichzeitigkeit und die Relativität der Länge, den optischen Doppler-Effekt und sogar das relativistische Additionstheorem für Geschwindigkeiten. (Die Relativität der Masse und die Trägheit der Energie allerdings entziehen sich einer solchen Veranschaulichung.)
Mit Hilfe der Transformation auf ein schiefwinkliges Koordinatensystem können alle die genannten Effekte also veranschaulicht und halbwegs plausibel gemacht werden, sie können jedoch nicht kausal erklärt werden. Das heißt: Die Transformation liefert keine Begründung für diese Effekte; sie beantwortet nicht die Frage, woher es kommt, dass sich Zeitintervalle und Strecken in der beschriebenen Weise verhalten und warum der eine der beiden Zwillinge beim so genannten "Zwillingsparadoxon" (das kein Paradoxon ist) langsamer altert als der andere. Mit dieser Frage befasst sich das nächste Kapitel.
In der klassischen Physik (und nach dem "gesunden Menschenverstand") ist das Weltall ein dreidimensionaler euklidischer Raum, in dem die "absolute Zeit" unabhängig von jedem äußeren Einfluss abläuft (Isaac Newton). Diese Vorstellung von Raum und Zeit ist durch die Spezielle Relativitätstheorie hinfällig geworden.
Die Spezielle Relativitätstheorie in ihrer ursprünglichen Form bietet jedoch keinen Ersatz für diese Vorstellung an. Sie hat die Fragen nicht beantwortet, wie wir uns nunmehr Raum und Zeit zu denken haben und wie die Struktur des Weltalls beschaffen sein muss, wenn in ihm nicht die Gesetze der klassischen Physik, sondern die der Relativitätstheorie gelten, wenn Zeitintervalle, Strecken und sogar Massen von der Geschwindigkeit des Beobachters abhängig sind und die Zeit umso langsamer vergeht, je schneller man im Weltall umherreist. Wie muss die Struktur des Weltall beschaffen sein, wenn in ihm solche Effekte sozusagen normal und naturgesetzlich sind? Mit dieser Frage hat sich erst Hermann Minkowski beschäftigt, während Albert Einstein bereits über eine Allgemeine Relativitätstheorie nachdachte.
Der Schlüssel zur Antwort liegt in der Lorentz-Transformation verborgen.
Es lässt sich leicht zeigen, dass für die Koordinaten eines jeden Ereignispunktes in zwei beliebigen Bezugssystemen gilt:
Im euklidischen Raum gilt beim Übergang von einem rechtwinkligen Koordinatensystem zu einem anderen, ebenfalls rechtwinkligen Koordinatensystem mit demselben Ursprung, das jedoch gegenüber dem ersten um einen beliebigen Winkel gedreht ist,
Die Gültigkeit des Satzes von Pythagoras ist eines der Merkmale des euklidischen Raumes. Seit geraumer Zeit beschäftigen sich Mathematiker aber auch mit nicht-euklidischen Räumen, in denen andere Gesetze gelten. So gibt es zum Beispiel einen sog. pseudo-euklidischen Raum bestimmter Struktur (oder Metrik), in dem das Abstandsquadrat zweier Punkte wie folgt berechnet wird:
Der Übergang von einem Bezugssystem auf ein relativ dazu bewegtes stellt sich im Minkowski-Raum dar als Übergang zu einem gedrehten, ebenfalls rechtwinkligen vierdimensionalen Bezugssystem. Der Drehwinkel φ hängt in der genannten Weise von der Relativgeschwindigkeit v der beiden Bezugssysteme ab:
Der Minkowski-Raum
Die Metrik des Minkowski-Raumes
Ebenso gilt für die Koordinatendifferenzen zweier Ereignispunkte in zwei beliebigen Bezugssystemen
oder einfacher bei Beschränkung auf je zwei Koordinaten:
bzw.
Was kann das bedeuten?
und
Die Terme links und rechts des Gleichheitszeichens stellen nämlich (nach Pythagoras) das Quadrat des Abstandes des betrachteten Punktes vom Ursprung bzw. das Quadrat des Abstandes zweier Punkte dar, und diese Abstände bleiben bei Drehung des Koordinatensystems konstant.
Dementsprechend gilt für das Abstandsquadrat eines Punktes vom Ursprung
und beide Größen bleiben bei Drehung des Koordinatensystems konstant.
Man kann daraus folgern, dass der Minkowski-Raum ein pseudo-euklidischer Raum von eben dieser Metrik ist. Alle relativistischen Effekte sind dann die notwendige Folge dieser Struktur des Raumes. Anders ausgedrückt: In dem pseudo-euklidischen Raum dieser Metrik lauten grundlegende Gesetze der Physik genau so, wie sie von der Speziellen Relativitätstheorie beschrieben werden.
Da beide Bezugssysteme rechtwinklig sind, sind sie auch in dieser Hinsicht gleichberechtigt.
Abbildung 2 |
In der Abbildung sind nur 5 verschiedene X'-Achsen dargestellt. Man muss sich jedoch vorstellen, dass durch jeden Punkt der X-Achse jeweils eine X'-Achse geht. Das heißt: Wir müssen uns im Minkowski-Raum eine Ebene vorstellen, die dicht mit X'-Achsen ausgefüllt ist, von denen jede aus einer anderen Zeit stammt und die alle gleichzeitig anwesend sind - wenn auch ein Beobachter in S von jeder jeweils nur einen einzigen Punkt wahrnimmt, nämlich den, der gerade auf seiner X-Achse liegt.
Abbildung 3 |