Sonatenhauptsatzform
Bei der Sonatenhauptsatzform handelt es sich um eine musikalische Form, genauer um eine Entwicklungsform. Der Begriff kommt daher, dass der erste Satz einer Sonate oder einer Symphonie (die im Grunde eine Sonate für Orchester ist) in der Regel der nachfolgend beschriebenen Form gehorcht.
Am Beginn steht die Exposition. Sie stellt zunächst das erste Thema (in der Regel das Hauptthema) vor. Dieser Teil der Exposition wird Hauptsatz genannt. Das Hauptthema steht in der Grundtonart (Tonika) des Satzes.
Dem Hauptsatz schließt sich ein modulierender oder überleitender Teil an. Er besteht, vor allem in den Werken der Wiener Klassik, oft aus gewollt unthematischen, im allgemeinen sehr motorischen Floskeln und zeigt so den Passagencharakter dieses Teiles deutlich auf.
Es folgt meist ein zweites, kontrastierendes Thema im so genannten Seitensatz. Es steht immer in einer anderen Tonart, häufig in der Dominante, nicht selten aber auch in der Subdominante, in der parallelen Dur-/Molltonart oder einer anderen verwandten Tonart. (Der Regelfall ist: Hauptsatz in Dur - Seitensatz in der Dominante; Hauptsatz in Moll - Seitensatz in der Durparallele). Diese tonartliche Spannungsbeziehung der Teile Hauptsatz - Seitensatz ist das wesentliche Merkmal der Sonatenhauptsatzform.
Sodann folgt meist die Schlussgruppe, die aus thematischem Material bestehen kann.
Vor Beginn der Exposition kann eine kürzere oder längere Einleitung stehen. Joseph Haydn als prominenter Entwickler der Sinfonie hat sich oft einer Einleitung bedient. Er baut damit eine Spannung vor allem im tonartlichen Gefüge auf, gegen die der Eintritt des Hauptsatzes nicht selten harmlos und somit entspannend wirkt. Die Motorik des meist schnellen Hauptsatzes unterstreicht noch den starken Kontrast zwischen ihm und der Einleitung. Einleitungen werden nach und nach immer bedeutender. In Beethovens Sinfonien findet man diese bei den Nummern 1, 2, 4 und 7, der Übergang in den eigentlichen Satz wird immer fließender. So kann man den Beginn der neunten Sinfonie ebenfalls als Einleitung hören, Charakter und Puls lassen dies zu. Man kann von einer Verselbständigung des Formteils Einleitung sprechen.
Die Exposition wird häufig wiederholt.
Die klassische Lehre behauptet, dass das erste Thema meist einen männlichen, kraftvollen Charakter hat, das zweite dagegen einen weiblichen, lyrischen. Diese Regel wird in der Praxis jedoch häufiger gebrochen als eingehalten. Allerdings können die beiden Themen nicht selten - wenn auch bei weitem nicht immer - als gegensätzlich bezeichnet werden.
Nach der Exposition folgt die Durchführung. Hier werden die in der Exposition vorgestellten Themen musikalisch verarbeitet. Beispielsweise durch harmonische Veränderung, rhythmische Veränderung, Zerlegung von Motiven usw. Die Tonika wird gemieden, es wird bis in entferntere Tonarten moduliert (Modulation). (In der Wiener Klassik oft spielerisch mit dem Einsatz der Hörner verdeutlicht: als Naturhörner verwendet, steht diesen Instrumenten nur begrenztes Tonmaterial in der Nähe der Grundtonart zur Verfügung. Schweigen die Hörner, befindet man sich weit entfernt. So setzt sich die Durchführung auch oft klanglich vom stabilen Rest ab.)
Mit der Wiederkehr des vollständigen Hauptthemas auf der Tonika setzt die Reprise ein. Es folgt der Seitensatz (bzw. das zweite Thema), in der Reprise nun ebenfalls auf der Tonika.
Für eine Sonate oder Sinfonie in Moll ergibt sich so das Problem, dass der Seitensatz in der Exposition in Dur erscheint (Parallele der Grundtonart), in der Reprise aber Moll verlangt wird. Also muss das zweite Thema sowohl in Dur als auch in Moll "funktionieren". Dieser Umstand trägt wohl mit dazu bei, dass Werke in Moll seltener anzutreffen sind. Jedoch sind es gerade diese (z. B. bei Beethoven die Fünfte und die Neunte als seine einzigen Moll-Sinfonien), die sich besonders durchgesetzt haben.
Am Ende der Reprise wird nicht selten noch eine Coda angehängt, die Ausmaße von einem kurzen Anhängsel bis zu einer ausgewachsenen zweiten Durchführung haben kann.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts trat die Sonatenhauptsatzform einen wahren Siegeszug an. Die Entwicklungsmöglichkeiten des thematischen Materials sind weitaus vielseitiger als beispielsweise bei der zwei- oder dreiteiligen Liedform. Ein bedeutender Reiz bildet der Dualismus der beiden Themen, die - wiederum Gegensatz zur Liedform - gewissermaßen direkt gegeneinander und/oder miteinander auftreten. Der Reiz des Dualismus findet sich zwar in gewissem Maße auch in der Fuge, die auch eine Entwicklungsform ist, aber der Kontrapunkt bringt darin kein wirklich eigenständiges Thema. Im Gegensatz zur Fuge, die eine sehr strenge Form ist, ermöglicht die Sonatenhauptsatzform außerdem große Freiheiten. So gesehen passt der Siegeszug der Sonatenhauptsatzform hervorragend in das Zeitalter, in dem sich die bürgerlichen Freiheiten Bahn brachen.