Gruppenehe
Die Gruppenehe ist eine Eheform, bei der mehrere Männer und mehrere Frauen gleichzeitig miteinander verheiratet sind. Alle Frauen sind dabei legitime Sexualpartnerinnen für alle Männer dieser Gruppe und umgekehrt.Echte Gruppenehen entsprechen den kulturellen Normen der Gesellschaft, in der sie auftreten. Sie sind festgelegten sozialen Regeln unterworfen. Sie dienen der Legitimierung der Nachkommenschaft aller beteiligten Frauen und Männer und sie sind relativ dauerhaft.
Gruppenehen kommen heute - wenn überhaupt - nur noch sehr selten vor. Manchmal entwickeln sie sich aus polyandrischen Gemeinschaften heraus.
Ob die Existenz der Gruppenehe von Anthropologen/Ethnologen als soziale Institution anerkannt wird oder nicht, hängt von seiner Definition des Begriffs Ehe ab.
In der sozial-evolutionistischen Theorie des 19. Jahrhunderts spielte die Gruppenehe eine wichtige Rolle. Lewis Henry Morgan stellte in "Ancient Society" die These auf, dass die Gruppenehe zwischen Brüdern der einen Familie und Schwestern der Anderen sich aus der Promiskuität ("unterschiedsloser Geschlechtsverkehr") heraus entwickelt habe und die erste Form von Ehe und somit den Beginn der Familie markierte. Diese Gruppenehe zwischen Schwestern und Brüdern würde ihrerseits dann in einem weiteren Evolutionsschritt abgelöst von einer durch strengere Regeln eingeschränkten Form der Gruppenehe, der so genannten "Punala-Ehe". Morgans Thesen konnten jedoch bis heute nicht verifiziert werden.
Die Pirauru-Ehe der Dieri und anderer Stämme in Australien kommt zwar vor, aber nur als seltene Ausnahme. Andere Eheformen gelten als kulturelle Norm.
In der Polygynie in Westtibet können Gruppenehen in bestimmten Fällen auftreten: Wenn die Frau von mehreren Brüdern kinderlos bleibt, dürfen die Brüder eine weitere Frau in ihren Haushalt aufnehmen. Diese beiden Frauen sind gemeinsam Ehefrauen von allen (werden also nicht unter den Brüdern "aufgeteilt"). Es handelt sich um eine echte Ehe, da sexuelle Rechte mit ökonomischen Pflichten einhergehen.
Wenn eine Gruppe von Brüdern mit drei Frauen verheiratet ist und immer noch kein Kind entstanden ist, wird ein Cousin ersten Grades der Brüder in die Gruppe aufgenommen. Wenn auch er kein Kind zeugen kann, adoptiert die Familie ein Kind.
Wenn einer der Brüder aus einer fraternalen polyandrischen Familie sich in eine Frau verliebt, kann diese in die Familie einheiraten. Dazu müssen jedoch die betroffene(n) Frau(en) und die Brüder des Mannes einverstanden sein.
Bei den Todas in Südindien ist die Gruppenehe erst während der britischen Kolonialherrschaft entstanden. In der Zeit davor wurde bei den Todas weibliches Infantizid (Tötung von weiblichen Säuglingen) praktiziert, um das Bevölkerungswachstum zu regulieren. Die kulturelle Ehenorm war polyandrisch. Nachdem die Briten den Infantizid verboten, ist die Zahl der Frauen rapide angewachsen, was laut Barnouw zur Entstehung der Gruppenehe geführt habe.
Vor der Kolonialzeit kannten die Marquesas-Insulaner die Gruppenehe als Eheform neben der non-fraternalen Polyandrie.
Wenn die Frau eines mächtigen Mannes mehrere Liebhaber hatte, konnte ihr Gatte sie ebenfalls mit ihren Liebhabern verheiraten. Diese "Zweitgatten" leben in separaten Häusern. Die Frau (oder ihr erster Gatte) riefen sie, wenn sie glaubten, dass sie an der Reihe wären. Ein sehr reicher Häuptling konnte mehrere Ehefrauen haben und sie alle mit sekundären Ehemännern "versorgen" (sofern verfügbar und willens). Alle Gatten sollen gleichberechtigt in Bezug auf ihre Rechte an den Frauen gewesen sein.
Streng genommen handelte es sich bei den Marquesas jedoch nicht um eine echte Gruppenehe, sondern um eine Pseudogruppenehe.Kulturen mit Gruppenehe
Dieri (Zentralaustralien)
West-Tibet
Todas (Südindien)
Marquesas (Polynesien)