Dichtersprache
Eine Dichtersprache im engeren Sinn ist eine mündlich tradierte, besonderen Regeln unterworfene Sprache oraler Kulturen, die oft auch eine besondere Art des Vortrages in Form eines Sprechgesangs, einer Melodie oder bestimmter Intonationen beinhaltet.Beispiele sind die nordische Dichtersprache, die später in Island auch aufgezeichnet wurde (siehe Skalde), die aber schon vorher existierte, die altarabische Dichtersprache in vorislamischer Zeit, die in frühislamischer Zeit schriftlich festgehalten wurde (siehe Hafiz) oder die altindische Dichtersprache. Eine Dichtersprache pflegten auch die keltischen Barden.
Dichtersprachen gibt es auch heute noch in oralen Kulturen, etwa in Afrika, wo sie von bestimmten Sängern (Griots) gepflegt werden, die viele lange Gedichte auswendig können und bei bestimmten Gelegenheiten vortragen.
Manchmal existieren mündlich weitergegebene Dichtersprachen noch lange nach Entwicklung einer Schriftkultur weiter, oft in Form des traditionellen Volksliedes. So wurde noch im 20. Jahrhundert eine alte Griechin entdeckt, die ein langes Volkslied vortragen konnte, dessen Text man bis dahin in fast gleicher Form nur aus mittelalterlichen Handschriften kannte.
Auch die Überlieferung des Stoffes des Nibelungenlieds ist ohne die Existenz einer germanischen Dichtersprache schwer vorstellbar, da es zum Teil recht genau historische Ereignisse beschreibt, die 700 Jahre zuvor stattfanden und von denen man zur Zeit der schriftlichen Fixierung des Epos kaum Kenntnis aus anderen Quellen besaß. Möglich ist allerdings auch, dass wir heutigen nur glauben, dass das Nibelungenlied "recht genau historische Ereignisse beschreibt", die 700 Jahre zuvor stattgefunden haben, eben weil die historischen Ereignisse in den eigentlichen Stoff hinein verwoben wurden und zwar von der schier endlosen Kette der Rezipienten. Eine Sage, von der ein Rezipient glaubt sie beschreibe einen historischen Vorgang, wird um Bestandteile eben dieses Vorganges angereichert, ohne ursprünglich Bezug zu ihm gehabt zu haben. Auf lange Zeiten gesehen, kann dieses Phänomen zu ganz erstaunlichen Akkumulationen scheinbarer Geschichtlichkeit führen.
Dass solche Vorgänge in der Rezeptionsgeschichte gerade der Nibelungensage eine Rolle gespielt haben müssen, belegte erst kürzlich Norbert Lönnendonker in seinem Buch "Als die Götter noch jung waren - Namenkundliche Untersuchungen zur Nibelungensage", Berlin 2003 [1].