Die Entwicklung des Wing Chun
Um sich gegen ihre Verfolger zu verteidigen beschloss Ng Mui das Shaolin-Kung-Fu zu verbessern. Lange Zeit überlegte Ng Mui, wie sie eine neue Kampfkunst entwickeln könnte, die auch einen schwächeren Menschen (sie selbst war schließlich auch nicht mehr die jüngste) befähigen würde, einen in klassischen Kampfkünsten Trainierten zu besiegen.
Die Legende sagt, dass sie die entscheidende Inspiration hatte, als sie einen Kampf zwischen einem Kranich und einem Fuchs beobachten konnte. Der Fuchs lief um den Kranich herum, in der Hoffnung, einen tödlichen Angriff gegen dessen ungeschützte Flanke anbringen zu können. Der Kranich drehte sich stets so, dass seine Brustseite unverwandt dem Fuchs zugewandt war. Jedesmal, wenn der Fuchs dem Kranich zu nahe kam und ihn etwa mit einer Pfote angreifen wollte, wehrte der Kranich mit einem Flügel ab und führte gleichzeitig einen Gegenangriff mit seinem Schnabel. Während der Kranich also mit den Schwingen abwehrte und mit dem Schnabel konterte, verließ sich der listige Fuchs auf die Schnelligkeit seiner Beine und auf Überraschungsangriffe.
Wie dieser Kampf endete war nicht von Bedeutung. Ng Mui aber entwickelte aus den daraus gewonnenen Ideen ein neues Kampfkunstsystem.
Die vornehmlichsten Unterscheidungsmerkmale des neuen Systems von Ng Mui zum Shaolin-Kung Fu waren die einfacheren und anpassungsfähigeren Bewegungen, die Praxisbezogenheit und der ökonomischere Krafteinsatz.
Ng Muis System zielte darauf ab den Gegner mit Methode statt mit Kraft zu besiegen.
Die Shaolin-Nonne und ihre Schülerin Yim Wing Chun
Am Tai-Leung-Berg machte Ng Mui die Bekanntschaft mit einem gewissen Yim Lee und dessen Tochter Wing Chun, was so viel bedeutet wie "schöner Frühling". Diesem jungen Mädchen hat das System der Nonne Ng Mui angeblich auch seinen wohlklingenden Namen zu verdanken.
Zu jener Zeit lebte Ng Mui im Weißen Kranich-Tempel am Tai Leung-Berg. Dort pflegte sie mehrere Male im Monat den Marktplatz des nahen Dorfes zu besuchen, um einzukaufen. An einem Stand verkaufte das junge Mädchen Yim Wing Chun mit ihrem Vater Tofu. Die beiden waren aus ihrer Heimat in der Kwantung-Provinz geflüchtet, da ihr Vater unglücklicherweise in eine Gerichtssache verwickelt war(man sagt unschuldig), die ihm das Leben hätte kosten können. Als Schüler des Shaolin-Klosters hatte er, Yim Lee, einige Kampftechniken erlernt und sorgte in seiner Gegend für Gerechtigkeit, wenn es sich als nötig erwies. Dadurch geriet er in Schwierigkeiten, die ihn zwangen seine Heimat zu verlassen und an die Grenze der Provinzen Szechwan und Yunnan zu fliehen und sich am besagten Tai Leung-Berg niederzulassen.
Yim Wing Chun entwickelte sich zu einem aufgeweckten und hübschen Mädchen. Ihre Schönheit und ihr freundliches Wesen sollten aber auch die Ursache für ein schlimmes Problem werden. Im Ort gab es einen notorischen Schläger namens Wong, der ständig Streit suchte. Aber die Dorfbewohner konnten ihm nichts anhaben, da er ein Kung Fu-Experte war und einer Geheimgesellschaft angehörte. Angezogen von der Schönheit Yim Wing Chun hielt er um ihre Hand an. Doch Wing Chun war schon als kleines Kind dem Jüngling Leung Bok Chau, einem Salzkaufmann aus Fukien versprochen. Wong schickte ihr daraufhin einen Boten, setzte ihr eine Frist und drohte Gewalt anzuwenden, falls sie sich ihm verweigerte. Vater und Tochter lebten also in großer Sorge um ihre Zukunft.
Ng Mui war im Laufe der Zeit zur regelmäßigen Kundin von Yim Lee und seiner Tochter geworden und unterhielt sich oft mit den beiden. Eines Tages erkannte sie, dass die beiden von großen Sorgen gequält wurden. Auf ihre Fragen erzählte ihr Yim Lee von Wong. Da Ng Mui einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte, beschloss sie Wing Chun zu helfen. Aber sie wollte den Bösewicht nicht selbst bestrafen, da sie einerseits nicht ihre Tarnidentität aufgeben wollte, andererseits wäre ein Kampf zwischen ihr, der berühmten Meisterin aus dem Shaolin-Kloster und einem unbekannten Dorfschläger unfair und ruhmlos gewesen. Deshalb wollte sie Yim Wing Chun helfen, indem sie ihr die Kunst des Kämpfens mit ihrem neuen Kampfsystem beibrachte. Nach nur drei Jahren Privatunterricht hatte sie die ihr gezeigte Methode gemeistert. Ng Mui schickte sie nach der Ausbildung im Weißen Kranich-Tempel wieder zurück zu ihrem Vater. Kaum kehrte Wing Chun ins Dorf zurück, wurde sie wieder von dem Schläger Wong bedrängt. Doch dieses Mal lief sie nicht vor ihm davon, sondern forderte ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war sich seines Sieges sicher und freute sich darauf, das schöne Mädchen endlich zu erringen. Aber er sollte sich getäuscht haben, denn Wing Chun schlug ihn zu Boden, wo er hilflos liegen blieb.
Nachdem Wing Chun den Schläger ohne Probleme besiegt hatte, setzte sie ihre Kampfübungen fort. Als Ng Mui beschloss, wieder weiterzureisen ermahnte sie Wing Chun, einen würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen.
Diese Mahnung wurde auch von den folgenden Generationen befolgt.