Wiener Schiedsspruch
Unter Wiener Schiedsspruch sind zwei Schiedssprüche zu verstehen, bei denen die Schiedsrichter des nationalsozialistischen Deutschen Reichs und des faschistischen Italiens Gebietsansprüche des revisionistischen Horthy-Ungarn an seine Nachbarn auf friedlichem Wege durchzusetzen versuchten. Sie ermöglichten es Ungarn, Gebiete in der heutigen Slowakei, Ukraine und Rumänien zu besetzen, die Ungarn 1920 mit dem Friedensvertrag von Trianon im Rahmen der Auflösung Österreich-Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg verloren und seitdem immer zurückzugewinnen versucht hatte.
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Der Erste Wiener Schiedsspruch
Der Erste Wiener Schiedspruch war das Ergebnis der Wiener Arbitrage vom 2. November 1938 im Wiener Belvedere, in dem Gebiete mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit in der Südslowakei und in der Karpato-Ukraine von der Tschechoslowakei abgetrennt und Ungarn zugesprochen wurden.
Die Delegationen
Der Schiedsspruch wurde von den Außenministern Deutschlands (Joachim von Ribbentrop) und Italiens (Galeazzo Ciano) durchgeführt.
Vorsitzender der ungarischen Delegation war Außenminister Kálmán Kánya. Ihn begleitete Kultusminister Pál Teleki.
Leiter der tschechoslowakischen Delegation waren Außenminister František Chvalkovský und Ivan Krno. Wichtige Mitglieder der tschechoslowakischen Delegation waren für die Karpato-Ukraine Premierminister Avhustyn Vološyn und für die Slowakei Premierminister Jozef Tiso sowie Justizminister Ferdinand Ďurčanský.
Vorgeschichte
Der zugunsten Ungarns gefällte Schiedspruch war eine der Folgen des Münchener Abkommens. Zusammen mit dem Münchener Abkommen war er Bestandteil des Plans des faschistischen Deutschlands zur Auflösung des Staates Tschechoslowakei. Ungarn hingegen arbeitete darauf hin, die gesamte Slowakei mittelfristig wieder unter seine Herrschaft zu bringen.
Bereits im November 1937 hatte Hitler den Ungarn einen nicht näher spezifizierten Teil der Tschechoslowakei versprochen. Anfang 1938 arbeiteten die Vertreter Ungarns sowie der ungarischen Parteien und deutschen Parteien der Tschechoslowakei gezielt an der Zerschlagung des Landes. Am 11. Februar 1938 besagte eine in Budapest geschlossene Vereinbarung, dass "die Tschechoslowakei zerschlagen werden muss". Am 17 und 18. April 1938 legte Graf Eszterházy, einer der Anführer der ungarischen Minderheit in der Slowakei, in Warschau einen von der ungarischen Regierung ausgearbeiten Plan vor, der die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die Eingliederung der gesamten Slowakei an Ungarn vorsah. Miklós Kozma, ein Anhänger des ungarischen Regenten Miklós Horthy, räumte am 12. April 1939, das heißt bereits nach dem Wiener Schiedsspruch, offen ein, dass "die Forderungen für die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern nur eine Taktik waren, die die Verwirklichung des strategischen Ziels - der Erneuerung von Großungarn, das das gesamte Karpatenbecken ausfüllt - näher bringen sollte".
Am 29. September 1938 folgte dann das Münchener Abkommen. Auf polnischen und ungarischen Druck hin bekam das Abkommen Zusatzprotokolle, denen zufolge die Tschechoslowakei innerhalb von drei Monaten in bilateralen Verhandlungen mit Polen und Ungarn auch die Frage der ungarischen und polnischen Minderheit lösen sollte.
Polen besetzte allerdings schon am 1. Oktober das Gebiet von Teschen (mit 1000 km² und überwiegend polnischer Bevölkerung), und zwar aufgrund von Forderungen, die es bereits am 21. September gestellt hatte. Vom 25. Oktober an fanden doch noch die in München befohlenen Verhandlungen statt. Als Ergebnis erhielt Polen am 1. Dezember 1938 weitere 226 km² mit 4280 Einwohnern (weniger als 0,3% Polen) in der Nordslowakei.
Die Verhandlungen mit Ungarn fanden zwischen dem 9 und 13. Oktober 1938 im tschechoslowakischen Teil der Stadt Komárno statt.
Die tschechoslowakische Delegation wurde vom Ministerpräsidenten der slowakischen Teilrepublik Jozef Tiso, die ungarische von Außenminister Kálmán Kánya und Kultusminister Pál Teleki angeführt. Als Zeichen des guten Willens bot die tschechoslowakische Delegation der ungarischen Abordnung die Abtretung des Bahnhofs von Slovenské Nové Mesto (bis 1918 eine Vorstadt der ungarischen Stadt Sátoraljaújhely) sowie der Stadt Šahy (ung. Ipolyság) an. Šahy wurde dann auch am 12. Oktober von Ungarn besetzt.
Die Ungarn verlangten bei den Verhandlungen die Abtretung des südslowakischen Gebiets ab (einschließlich) der Linie Devín(dt. Theben, ung. Dévény) - Bratislava (Pressburg, Pozsony) - Nitra (ung. Nyitra, dt. Neutra) - Tlmače (Garamtolmács) - Levice (ung. Léva, dt. Lewenz) - Lučenec (ung. Losonc) - Rimavská Sobota (ung. Rimaszombat) - Jelšava (Jolsva) - Rožňava (Rozsnyó) - Košice (ung. Kassa, dt. Kaschau) - Trebišov (Tőketerebes) - Pavlovce (Pálócz) - Ushhorod (Ungvár) - Mukatschewe (Mukačevo, ung. Munkács) - Vinogradiv (Nagyszőlős). In der restlichen Slowakei sollte eine Volksabstimmung stattfinden, ob sich nicht die gesamte Slowakei an Ungarn anschließen wolle.
Die tschechoslowakische Delegation hingegen bot darauf den Ungarn die Schaffung eines autonomen Gebiets in der Slowakei sowie die Abtretung der Großen Schüttinsel (Žitný Ostrov, ung. Csallóköz) an.
Als auch dieses Angebot abgelehnt worden war, schlug die Tschechoslowakei eine neue Lösung mit Gebietsabretungen vor, nach der genauso viele Slowaken und Ruthenen in Ungarn verbleiben sollten wie Ungarn in der Tschechoslowakei. Dabei wollte die tschechoslowakische Delegation jedoch die wichtigsten Städte der fraglichen Region wie Levice/Lewenz/Léva, Košice/Kaschau/Kassa, Užhorod/Ushhorod/Ungvár behalten. Auch dies war jedoch für die ungarische Seite nicht akzeptabel und am 13. Oktober erklärte Kánya nach einer Beratung in Budapest die Verhandlungen für gescheitert.
Bald danach gaben beide Seiten ihr Einverständnis, sich einem Schiedsspruch der faschistischen Großmächte Deutschland und Italien zu beugen; Großbritannien und Frankreich hatten schon zuvor ihr Desinteresse bekundet. Inzwischen arbeiteten nicht nur die Ungarn, sondern auch die slowakische Regierung mit Hitler zusammen. Somit waren beide Seiten überzeugt, dass Deutschland gerade sie unterstützen würde; doch genossen die Ungarn überdies die Unterstützung Italiens und Polens. Ende Oktober überzeugte Italien Deutschland, dass die Arbitrage über das ethnische Prinzip hinausgehen und Ungarn auch die Städte Kaschau, Ungvár und Munkatsch erhalten solle.
Bestimmungen
Abzutreten war das Gebiet, in dem die Ungarn 1910, das heisst bei der letzten ungarischen Volkszählung zur Zeit Österreich-Ungarns, mindestens 50% stellten. Konkret entsprach es dem Gebiet etwa südlich der Linie (einschließlich) Senec/Wartberg - Galanta - Vráble - Levice/Lewenz - Lučenec/Lizenz - Rimavská Sobota/Großsteffelsdorf - Jelšava/Eltsch -Rožnava/Rosenau -Košice/Kaschau - Michaľany - Veľké Kapušany - Užhorod/Ushhorod - Mukačevo/Mukatschewe - rumänische Grenze.
Die Fläche dieser Gebiete betrug 11.927 km² (10.390 davon in der heutigen Slowakei, der Rest in der Karpato-Ukraine) mit über 1 Million Einwohner. In den abgetrennten slowakischen Gebieten lebten nach tschechoslowakischen Zählungen aus der Zeit vor dem Schiedsspruch 852.332 Einwohner:
- 506.208 (59%) Ungarn, aber auch
- 290.107 (34%) Slowaken,
- 26.227 (3,07%) Juden,
- 13.184 (1,5%) Deutsche,
- 1892 (0,2%) Ruthenen und
- 14.714 (1,7%) andere Nationalitäten.
Kurz nach dem Schiedsspruch schlug János Eszterházy, der Vorsitzende der Partei der Ungarn in der Slowakei, vor, Ungarn solle 1000km² des erhaltenen Gebiets an die Slowakei zurückgeben, um ein langfristiges friedliches Zusammenleben beider Nationen zu sichern (konkret ging es um ein slowakisches Gebiet an der Sprachgrenze: Bezirk Šurany/Nagysurány und Palárikovo/Tótmegyer). Sein Vorschlag fand aber in Budapest keine Beachtung.
Der Schiedsspruch wurde von den Alliierten bereits während des Weltkriegs für nichtig erklärt und anschließend von der Pariser Friedenskonferenz 1947 auch rechtlich aufgehoben.
Folgen
Bereits zwischen dem 5. und 10. November wurde das abgetretene Gebiet von der ungarischen Honvéd (Magyar Királyi Honvédség) besetzt. Am 11. November zog der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy feierlich in das besetzte Košice (ung. Kassa, dt. Kaschau) ein. 30.000 Tschechen und Slowaken verließen im Verlauf der folgenden Wochen die Stadt. Der Einzug der Honvéd wurde von der Mehrheit der magyarischen Bevölkerung des angeschlossenen Gebietes zwar anfangs begrüßt, aber bald danach hieß es auf den Mauern statt Mindent vissza! ("Alles zurück" - das heißt die gesamte Slowakei) Minden drága, vissza Prága! ("Alles ist teuer, zurück zu Prag") und man sagte Nem ezeket a magyarokat vártuk ("auf diese Ungarn haben wir nicht gewartet"). Der ungarische Schriftsteller K. Janics schrieb dazu 1994, dass zwar anfangs 90% der magyarischen Bevölkerung der angeschlossenen Gebiete den Anschluss begrüßten, aber bereits am Ende des Sommers 1939 wieder eindeutig für eine Abtrennung von Ungarn waren. Dies hing natürlich nicht mit Ungarn als solchem zusammen, sondern mit dem dort seit langem herrschenden autoritären Regime von Miklós Horthy, der Ungarn seit dem 1. Weltkrieg nicht aus seiner demokratischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit befreit hatte - das genaue Gegenteil der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. So gab es zum Beispiel längere Arbeitszeit, höhere Preise, geringere Löhne, höhere Steuern, keine Kollektivverträge, keine Arbeitslosenhilfe, fast keinen Urlaub usw. Auf Forderungen der Bevölkerung hin, die Vorteile des tschechoslowakischen Systems beizubehalten, wurde zumindest die Schulpflicht von 6 auf 8 Jahre erhöht.
Obwohl Miklós Horthy bei seinem Einzug in Kosice versprochen hatte, die slowakische Sprache dürfe beibehalten und gepflegt werden, waren die slowakische und die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten diversen Verfolgungen ausgesetzt. Die ungarischen Gendarmen begingen oft Gewaltakte gegen die Slowaken und brachten Tausende um. Der bekannteste Fall geschah Weihnachten 1938, als die Gendarmen Slowaken beim Verlassen der Kirche beschossen, nur weil sie in der Messe ein slowakisches Nationallied gesungen hatten. Militärische Sondergerichte, die die Untergrundmitglieder zu Tod oder Folter verurteilten, waren gang und gäbe. Slowakische Bibliotheken und Bücher wurden massenweise verbrannt, Tausende slowakische und tschechische Angestellte vor allem bei der Bahn und im öffentlichen Dienst entlassen, den Slowaken und Juden Gewerbescheine entzogen, Priester, die Messen nicht auf Ungarisch lasen, wurden misshandelt usw. Natürlich wurden auch die meisten slowakischen Schulen geschlossen (386 Volksschulen, 28 Realschulen und 10 Gymnasien), die Initiatoren entsprechender Protestveranstaltungen interniert und 862 Lehrer verbannt. Insgesamt wurden aus der Südslowakei etwa 100.000 Slowaken und Tschechen verjagt oder sie flüchteten. In die zweite ungarische Armee, die Ungarn 1942 in die Sowjetunion schickte, wurden offen und gezielt vor allem Slowaken, Rumänen und Ukrainer einberufen. In der Schlacht am Don wurde diese Armee völlig aufgerieben, Tausende kamen um. Der ungarische Premierminister Miklós Kállay äußerte sich dazu am 23. Februar 1943 wie folgt: "Gottseidank betreffen die Verluste der ungarischen Armee nicht in größerem Ausmaß die Substanz der magyarischen Nation, weil die (sc. fremden) Nationalitäten mehr Menschenleben verloren haben."
Die ungarischsprachige jüdische Bevölkerung des Gebietes wurde nach der deutschen Besetzung Ungarns (19. März 1944) von einem Kommando unter Führung von Adolf Eichmann deportiert.
Nach dem Befreiung des Gebietes durch die Sowjetunion wurde das Gebiet wieder an die Tschechoslowakei angeschlossen. Die Ungarn galten 1945-1948 vorübergehend als Kriegsverbrecher, falls sie nicht im Untergrund gegen die Deutschen gekämpft hatten. Eine Vertreibung der Ungarn wie im Falle der Deutschen in Tschechien wurde von den Alliierten nicht genehmigt, es wurde nur ein sogenannter "Bevölkerungsaustausch" erlaubt, bei dem 68.407 Ungarn im Austausch gegen Slowaken nach Ungarn umgesiedelt wurden. Weitere 31.780 Ungarn wurden vertrieben, weil sie erst nach dem Schiedsspruch in diese Gebiete gekommen waren. Schon zuvor wurden innerhalb der Tschechoslowakei etwa 44.000 Ungarn (sowie über 100.000 Slowaken) in das verlassene Sudetenland nach Tschechien zum Arbeitsdienst deportiert. Nach ein bis zwei Jahren wurde den Ungarn erlaubt, in die Südslowakei zurückkehren, was auch rund 24.000 von ihnen taten. Diese faktisch rechtlose Zeit dauerte bis zum kommunistischen Umsturz 1948 an, danach bekamen die Ungarn die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und alle Rechte zurück.
Im übrigen siehe Ethnische Entwicklung der Slowakei.