Visuelle Poesie
Visuelle Poesie verbindet Bild und Schrift. Sie reicht von der Gestaltung der Buchstaben bis zu ganzen Texten. Auch der umgekehrte Weg ist möglich, also von der Grafik zur Schrift, die meist der gewichtigere Bestandteil ist. Sie bildet dann entweder selbst die Grafik oder wird von ihr begleitet. Mit den Augen visueller Poeten gesehen werden Notizzettel, Plakate und Zeitungen wilde Versammlungen von Buchstaben, sich über die Wände oder Seiten windende schlängelnde Sätze, mörderische „E“'s oder erfundene Alfabete, wachsend in Alfabeeten, Menschen als Buchstaben, die durch die Texte der Städte laufen und durch lesbare Landschaften fahren. Die Wirklichkeit verwandelt sich „wie beschrieben“. Auch ein Gespräch zwischen Menschen kann visuelle Poesie sein, in der Wirklichkeit und mitunter in mittelalterlichen Gemälden, in alten Kirchenfenstern und auch in guten Comics.
Die Eigenschaften der Sprache verführen zu Bildern. Denn sie spiegelt die
Welt. Sie enthält, was die Sinne aufnehmen, was Menschen erleben
und was sie daraus machen.
Sie ist beladen mit Bedeutungen und verhält sich synästhetisch.
Denn im Moment der Interpretation werden die mit dem Gesagten
verbundenen Erinnerungen aufgerufen, und das können sehr viele auch
kaum miteinander verbundene Gedanken sein.
An der Interpretation sind Sprecher und Hörer bzw. Schreiber und Leser
immer gemeinsam beteiligt.
Nahe liegt, dass es die visuelle Poesie seit der Erfindung der Schrift gibt.
Die ersten Schriftzeichen waren allerdings selber Bilder.
Erst als die Zeichen abstrakt wurden, fingen die Schreiber an, sie auch
künstlerisch zu nutzen.
Der Lyriker Simonides von Keos (6./5.Jh. v. Chr.) meinte schon, dass
Malerei „eine stumme Poesie und die Poesie eine redende Malerei“ sei.
Aus magischen Gründen erfanden die alten Griechen den Akephalos
(Der Kopflose), der an moderne Textbilder erinnert. In die Umrisse einer
Figur sind Texte geschrieben. Und über den Schultern trägt sie statt einen
menschlichen fünf Schlangenköpfe.
Text und Bild sind auch außerhalb Europas verschmolzen. Die chinesische
und arabische Kalligraphie benutzen Schrift als Gestaltungsmittel in oder für
Bilder. Gedichte In arabischer Schrift können die Gestalt des Beschriebenen
annehmen, zum Beispiel Kamele oder Vögel. Die Rubayat des Persers
Omar Khayyam sehen in ihrer arabischen Form auch ohne sie zu
verstehen, wunderbar aus.
In China unterlag Malerei und Schrift einer feinen Ästhetik. Die beiden Wang formulierten es so:
Jeder horizontale Pinselstrich gleicht einer kampfbereiten Wolkenmasse,
jeder geschwungene Haken einem starken, gespannten Bogen, jeder Punkt
einem von hohen Felsen herabstürzenden Stein, jeder mehrfach gebogene
Pinselstrich einem Messinghaken, jeder längere Strich einer alten
ausgedörrten Weinrebe und jeder schnelle und freie Pinselstrich einem
losstürmenden Läufer.“
(Aus: Pál Miklós. Das Drachenauge. Einführung in die Ikonographie der chinesischen Malerei. Leipzig 1981. S. 74)
im Mittelalter entstandene Schriften waren oft Kunstwerke.
im „Spektrum der Wissenschaft“ (Novemberheft 2003) wird eine Seite aus
dem Werk des Gelehrten Albertus Magnus (Er lebte etwa von 1200 bis
1280) „Über Schlafen und Wachen“ wiedergegeben. In der Mitte steht ein
Aristoteles-Text, an den Seiten hängt wie Flügel der Kommentar des Averroes, und beide umgibt der Kommentar des Albertus Magnus.
Die Schrift schimmert braunrot, leicht nach oben links verschoben ein rotes
Zentrum, der übergroße und verzierte Anfangsbuchstabe des innersten
Textes.
Die Barockzeit spielte mit Labyrinthgärten, Bäumen und anderen Dingen aus
Texten und Gedichten. Zur Zeit wird überall ein Plakat angeboten, in
welchem diese Tradition zu leben scheint. Es zeigt die europäische
Geschichte als Baum.
Natürlich tauchen in allen Bereichen Anklänge auf, Notenblätter, Landkarten,
die sehr schöne Beispiele für textgewordene algorithmische Abbildungen
der Geographen sind und so weiter.
Überhaupt erfinden Wissenschaftler poetische Mischungen aus Text und
Bild. Die Astronomen z.B. beschreiben und bebildern das Weltall als wären
sie visuelle Poeten., obwohl sie es wissenschaftlich meinen.
Ähnlich gehen Genetiker vor und auch Mathematiker.
Einer der bekanntesten visuellen Poeten des vergangenen Jahrhunderts,
Carlfriedrich Claus, glaubte lange, er betreibe Gehirnforschung, denn er
meinte, wenn er Texte schreibe, die sich unter seiner Hand in Bilder
verwandeln, würde das Denkvorgänge erkennen lassen.
Erst ein Maler sagte ihm, das sei kunst.
Im weiteren Sinn ist also Sprache in allen ihren Formen und Ebenen
auch immer Poesie für das Auge,
sowohl Sprechende oder Schreibende und auch in den Computer
Tippende, als auch das, was und wie sie in die Luft, auf das Papier und den
Bildschirm malen.
Es kommt nur darauf an, es zu sehen,
und zu hören, oder sogar zu riechen und zu schmecken.
Oder klingen nicht Laute, dunkel und hell, strahlen sie in den Farben
der Vokale, und duften und schmecken süß oder sauer,
und scharf rollt das „R“?
Die poetische Energie lebt als Urkraft in allen menschlichen Tätigkeiten.
Sprache ist synästhetisch und damit von Anfang an vieldeutig.
Beides zusammen verführt zu Metaphern,
die aber gar nicht unbedingt welche sind, weil schon vorgegeben durch die
Struktur der Sprache.
Die Künste verschmelzen, oder umgekehrt, sie sind nur scheinbar getrennt.
Die Wissenschaft braucht die poetische Kraft als Ansporn und
Ausdrucksmittel.
Aus diesen Gründen sind wir alle visuelle Poeten.
Hartmut Sörgel
Sprache
Schrift
Anklänge
Poesie
Als Fazit folgende Thesen:
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