Textus receptus
Textus receptus (lat. für der allgemein angenommene Text) nennt man jene Textform des griechischen Neuen Testaments, die in der Erstausgabe des Erasmus von Rotterdam von 1516 zu finden ist und sich in der Folge für lange Zeit durchgesetzt hat.In der komplizierten Textgeschichte des Neuen Testaments unterscheidet man verschiedene Textfamilien. Erasmus hat seiner Erstausgabe den sogenannten byzantinischen Reichstext zu Grunde gelegt. Diese Textform wird zwar von der Mehrheit der erhaltenen Handschriften überliefert, ist aber, wie die wissenschaftliche Textkritik heute annimmt, eine vergleichsweise späte Entwicklung, die sich im Lauf der Textüberlieferung vom Urtext recht weit entfernt hat.
Im 18. Jahrhundert wird der Textus receptus in Frage gestellt: Ausgaben des griechischen Neuen Testaments enthalten nun einen textkritischen Apparat, in dem abweichende Lesarten aus anderen Handschriften und Übersetzungen verzeichnet sind, zum Teil mit Angabe, sie seien vermutlich ursprünglicher als die Lesart des Textus receptus. Im 19. Jahrhundert werden weitere Handschriften entdeckt, entziffert und in ihrer Wichtigkeit für die Textüberlieferung erkannt. Mit der Ausgabe von Constantin von Tischendorff von 1869/1872 und derjenigen von Westcott/Hort 1881 darf der Textus receptus in der wissenschaftlichen Textkritik als überwunden gelten, auch wenn man an den textkritischen Leitprinzipien insbesondere von Westcott/Hort durchaus berechtigte Kritik üben kann.
Einzelne Anhänger des Textus receptus, die diese Textform als die von Gott inspirierte ansehen, gibt es allerdings bis heute.
Bibelübersetzungen aus der Reformationszeit wie diejenige von Martin Luther oder die englische King James Bible legen den Textus receptus zu Grunde, während heutige revidierte Übersetzungen die neueren textkritischen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments zur Grundlage nehmen.
Siehe auch: Textgeschichte des Neuen Testaments, Textkritik des Neuen Testaments