Soziale Frage
Die Soziale Frage bezeichnete im 19. und 20. Jahrhundert allgemein ein langsames, aber fühlbares Anwachsen von als schwer und vernetzt empfundenen Lebensproblemen, die sich aus der sozialen Lage unterprivilegierter Bevölkerungsschichten ergeben. Die Suche nach einem 'eigentlichen Auslöser' hat sie stets begleitet.Der Begriff setzte sich etwa ab 1830 langsam durch und umschrieb zunächst die mit dem Bevölkerungs- und Städtewachstum entstehende Verelendung, dann die mit dem Gesellenüberschuss (daher auch der "Handwerksburschenkommunismus" von Wilhelm Weitling) und den Arbeitsbedingungen der Frühindustrialisierung (12-Stunden-Tag, Kinder- und Frauenarbeit) verbundenen Konflikte. Die Krise wurde vielfach fühlbar (Unterernährung und frühes Siechtum, Untergang kleiner Wirtschaftsbetriebe – Höfe, Einzelhandel, Handwerk –, Wohnungsnot, starke Binnenmigration, neue Kriminalitätsformen). Zur Lösung dieser Probleme engagierten sich bäuerliche, bürgerliche, kirchliche und besonders dann sozialistische (marxistische) Bewegungen, neben zunächst den neuzeitlichen Genossenschaften und z. B. dem katholischen Kolping-Bund bald die Gewerkschaften, endlich dann auch Parteien (im Deutschen Reich u.a. die SPD). Auch die staatliche Sozialpolitik versuchte eine Entschärfung dieser Konflikte durch Sozialreformen, sowie unter den Wissenschaften zumal die Nationalökonomie (vgl. den Kathedersozialismus).
Aus der Sicht der Arbeiterbewegung war die Soziale Frage ein Resultat des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit, ein von ihr lange Zeit meinungspolitisch durchgesetzter Standpunkt. Doch ist auch an die vorher entstandene Genossenschaftsbewegung zu denken, an die parallel anwachsende Frauenbewegung, nach 1900 auch an die Jugendbewegung zu denken, alle mit durchaus abweichender Strategien der Problembekämpfung.
Die großen schlagenden Krisen ab 1914 (Erster Weltkrieg 1914-18, die Mega-Inflation bis 1923, die „Weltwirtschaftskrise“ ab 1929, die populistische Verbrechensherrschaft ab 1933 und der Zweite Weltkrieg 1939-45) wurden nicht mehr als „Soziale Frage“ diskutiert. Der Ausbau des Sozialstaats und die Anhebung des allgemeinen Wohlstandsniveaus nach 1950 trugen endlich dazu bei, dass die Soziale Frage als Arbeiterfrage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in den Industrieländern als Begriff in Vergessenheit geriet.
In Deutschland begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine Diskussion unter dem Stichwort Neue Soziale Frage. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass sich im modernen Sozialstaat neue Formen der strukturellen Armut und Ausgrenzung ergeben hätten, die es zu beheben gelte (z. B. bei Nichtorganisierten, Alten, Alleinerziehenden etc.). Heute kommen unter dem Eindruck von Massenarbeitslosigkeit, Armut und Verslummung auch unter Erwerbstätigen (Working Poor) weitere Formen der Ausgrenzung dazu, die von einigen als Gefährdung der politischen Stabilität wahrgenommen werden.
siehe auch: Sozial, Soziale Gerechtigkeit, Soziale Bewegung, Soziale Ungleichheit