Signografie
Signografie beziehungsweise -graphie ist die Lehre vom graphischen Zeichen. Ihr Gegenstand ist Anatomie und Entwicklung graphischer Formen und ihre Verwendung als Sinnträger, als Zeichen. Signografie ist die Semiotik des Graphischen, die von den originären Eigengesetzlichkeiten graphischer Formbildung ausgeht und diese auf alle Gebiete anwendet, die mit dem Medium des graphischen Zeichens kommunizieren.
Signografie ist die Lehre des graphischen Zeichens. Ihr Gegenstand sind graphische Zeichen jeglicher Art, jedweden Anwendungsgebietes. Im Sommer 2000 erschien auf meine Initiative hin die erste Ausgabe der Schriftenreihe Signa, in der zum ersten Mal eine Konzeption dieses Studienfaches unter dem Namen Signografie vorgestellt wurde.[1] Seitdem sind fünf weitere Ausgaben mit Beiträgen zu signographischen Themen erschienen, die auf wachsendes Interesse stoßen. Um allen Interessenten einen einfachen Einstieg in das Fach zu ermöglichen, stelle ich hier eine Reihe von Erläuterungen zum Verständnis des Faches, seiner Inhalte und Anliegen zur Diskussion.
Dieser Frage beschäftigt seit geraumer Zeit die Vertreter der Semiotik (Zeichenlehre, im allgemeinsten Sinne). Ein Zeichen kann ein Buchstabe, ein Signet, ein Gegenstand, eine Handbewegung, ein Ton, eine Geste, ein Bild oder sonstetwas sein. In Winfried Nöths aktuellem Handbuch der Semiotik wird – immerhin bereits auf Seite 133 –, zur allgemeinen Definition des Zeichens ausgeführt: »Jedes Objekt, jedes Ereignis oder Verhalten ist (...) ein potentielles Zeichen. Sogar Schweigen, das ja die Abwesenheit von Materialität und Zeichen zu beinhalten scheint, kann als ein Zeichen fungieren (...)[2]«
Da demnach letztlich alles als Zeichen gewertet werden kann, ist eine Unterscheidung zwischen dem als zeichenhaft betrachteten und dem nicht als zeichenhaft betrachteten notwendig. Oder, anders ausgedrückt: ein Zeichen ist zum einen ein bloßer Zeichenträger (beispielsweise ein Verkehrsschild), zum anderen aber die Gesamtheit aus Zeichenträger, Zeichenbedeutung und Bedeutungszusammenhang. Dieser Zusammenhang funktioniert in der Regel als Übereinkunft zwischen Mitteilendem und Mitteilungsempfänger.
Eigenartigerweise hat sich die philosophisch und linguistisch geprägte Semiotik bis heute kaum mit dem befasst, was man normalerweise am ehesten unter Zeichen versteht: graphische Zeichen.
Das griechische γραφειυ bedeutet soviel wie ritzen, schreiben, zeichnen. Es meint die Erzeugung einer Markierung durch eine Bewegungsspur auf einem Untergrund; etwa mit dem Finger im Sand, mit der Feder auf Papier oder mit einem Griffel auf einer Schiefertafel. Im Gegensatz zu abdruckerzeugenden Techniken (Schablonieren, Drucken), bei denen das Abbild einer bereits vorhandenen Form entspricht, entsteht beim Graphieren das Gebilde ursprünglich erst im Moment der Bewegung des Werkzeuges. Dieser Aspekt ist wesentlich.
Unter der großen Gesamtheit aller visuellen Zeichen nehmen die graphischen Zeichen insofern eine Sonderrolle ein, als bei ihnen die Spezifik der Zeichen(träger) – das Graphische –, mehr als bei sonstigen visuellen Zeichen mit der tatsächlichen Verwendung als Informationsträger zusammenfällt. Einfache graphische Gebilde werden ungleich häufiger als Kommunikationsmedium eingesetzt als etwa gemalte oder photografierte Bilder (natürlich gibt es Zwischenstufen und nahtlose Übergänge).
Der Impuls etwas zu zeigen fällt klassischerweise mit der Handlung etwas zu zeichnen (schreiben) zusammen. Graphische Zeichen sind visuell wahrnehmbare Markierungen, die aus tendenziell einfachen, oft einfachsten graphischen Gebilden bestehen und die in irgendeinem Zusammenhang der Speicherung und Übermittlung von Informationen dienen.
Zusammenfassend kann man sagen: graphische Zeichen sind eine (diffus umgrenzte) Teilmenge aller visuellen Zeichen, diese sind wiederum eine Teilmenge aller Zeichen überhaupt, sofern man sich auf eine sinnvolle Definition dessen verständigen kann.
Die Ursprünglichkeit des Graphischen an sich und die daraus resultierende Eigengesetzlichkeit graphischer Gebilde sind der eigentliche Grund, unter dem Begriff Signografie eben dieses zu erforschen, was bisher so noch von keiner anderen Disziplin geleistet wird. Zwar gibt es etliche Fächer, die sich mit Graphischem befassen, aber eben noch keines, welches das Graphische schlechthin untersucht.
Die Vergleichbarkeit der graphischen Ausdrucksmittel aller Gebiete offenbart einen gemeinsamen Wesenskern, der Gegenstand signografischer Untersuchung ist.
Die Bezeichnung Signografie wurde von mir nach reiflicher Überlegung und Beratung mit sprachkundigen Kollegen gewählt. Dabei stand ich vor dem Problem, dass ein Terminus, der auf das eigentlich Graphische abzielt, zu einer Bezeichnung wie Graphik, Graphemik, Grammatik oder Graphologie führen müsste – welche alle schon vergeben sind. Auch Grammatologie ist in der Semiotik schon benutzt worden,[3] Semiografie wurde in Hinblick auf Semiotik/Semiologie ebenfalls verworfen.
Da mir Grammatografie nicht opportun erschien, fiel die Wahl auf Signografie, eine græcolateinische Chimäre schließlich in Kauf nehmend. Gerechtfertigt wird diese Wahl in meinen Augen durch den Umstand, dass es hier nicht nur um graphische Zeichen im engsten Sinne geht, sondern auch um solche Zeichen der visuellen Kommunikation, die ihre Gestalt nicht ausschließlich rein graphischen Prozessen im physischen Sinne verdanken (unsere Buchstaben etwa sind Ergebnis einer Reihe unterschiedlicher Reproduktionsprozesse).
Die Lehre vom graphischen Zeichen. Untersuchungsgegenstand sind Zeichen und Zeichensysteme aller Art, von historischen und rezenten Schriften über Hausmarken, Firmensignets, Landkarten- oder Gerätezeichen bis zu elektrotechnischen oder musikalischen Notationssystemen. Die Signografie identifiziert und beschreibt Zeichen, den Zusammenhang zwischen Gestalt und Gebrauch des Zeichens; sie vermag die Anatomie und Metamorphose von Zeichen modellhaft und konkret zu erörtern. Dies ist notwendig, um Wandlungsprozesse von Zeichen zu verstehen.
Der Sinn signografischer Forschung ist, fundierte Erkenntnisse über Entstehung und Entwicklung sowie den Gebrauch von Zeichen zu gewinnen. Es geht um die Kenntnis von Zeichenvorkommen, Verständnis des Zeichenhaften, der Zeichen und ihrer Darstellung. Missverständnisse in Kommunikationsprozessen werden dadurch unwahrscheinlicher. Kommunikation wird effektiver, wenn man genau weiß, wann wo welche Zeichen einzusetzen sind und wie sie auszusehen haben – oder wie sie aussehen können.
Durch die rasante Zunahme des Informationsaustausches besteht heute eine gesteigerte Notwendigkeit, sich mit noch unbekannten Zeichenkulturen vertraut zu machen. Durch die Vernetzung der Welt wirken die Zeichengebräuche der Regionen in noch nie dagewesener Weise aufeinander ein.
Wer an diesen Prozessen gewinnbringend teilnehmen will, braucht fundierte Kenntnisse über den Umgang mit Zeichen.
Signografie sollte als eine Kulturwissenschaft aufgefasst werden, ähnlich der Sprachwissenschaft, Semiotik oder Musikwissenschaft. Signografie kann man als eine Semiotik des Graphischen verstehen oder auch als Grundlagendisziplin der visuellen Kommunikation.
Durch die oben gegebene Definition des Gegenstandes ergibt sich eine Bündelung einer ganzen Reihe von Fächern durch die signografische Perspektive. Einige davon seien hier genannt: Semiotik, Linguistik, Schriftgeschichte, Typografie, Paläografie, Epigrafie; Ornamentik, Heraldik, Siegelkunde, Monographik, Signetik. Ferner spielen Aspekte von Archäologie, Geometrie und Graphikdesign eine Rolle. Die Berührungspunkte der genannten Disziplinen sind zwar wohlbekannt, werden aber von den traditionell vereinzelten Fächern nicht hinreichend thematisiert. –
Wenn wir Signografie als Wissenschaft bezeichnen wollen, darf dabei nicht vergessen werden, dass es sich beim eigentlichen Untersuchungsgegenstand um Äußerungen mit zum Teil dezidiert künstlerischem Charakter handelt. Kunst und Wissenschaft gehören in der Signografie untrennbar zusammen.
Signografische Erörterung kann sich sowohl einem Zeichen als festgelegtem, frequent auftretenden Typus, als auch einem einzelnen Zeichenvorkommen widmen. Die beiden wichtigsten Aspekte sind in der Regel: a) wie sieht das Zeichen aus (was ist zu sehen?) und b) was wird durch das Zeichen mitgeteilt (was ist gemeint?) – Zeichengestalt und Zeichengebrauch. Denn: einunddieselbe graphische Form kann unter Umständen verschiedene Bedeutungen tragen, aber ein Zeichen kann mitunter auch ganz unterschiedliche graphische Formen annehmen – bei gleichbleibender Bedeutung.
Desweiteren ist die Thematik[4] ein wichtiges signografisches Forschungsfeld: welche Zeichen werden überhaupt wo verwendet? Ist es möglich, schlüssige Gesamtverzeichnisse meteorologischer oder kartographischer Zeichen anzulegen? Welche Zeichen werden in der Kristallografie verwendet? Für praktische Zwecke der Publizistik sind solche Fragen oft von großer Bedeutung.
Ferner gehört die Praktik zum Forschungsumfang, hier geht es um die unterschiedlichen Techniken zur Zeichendarstellung und ihre Wechselwirkungen mit Form und Anwendung.
Ganz allgemein: ein breiteres und tieferes Verständnis für die Zeichen der Welt – und damit für das, was Menschen mittels der Zeichen ausdrücken wollen. Die Parallele zum Erlernen von Sprachen liegt auf der Hand. Selbst in unserer, eindeutig alphabetisch geprägten Kultur gibt es eine Fülle außeralphabetischer Zeichenkonventionen. Gerade heute entwickeln sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen neue Zeichengebräuche, bestehende Zeichen erfahren oft eine Umwidmung.
Piktogramme und Ideogramme haben in den letzten Jahren massiv an Bedeutung in der visuellen Kommunikation – über die klassischen Anwendungsfelder hinaus –, gewonnen. Für Bereiche wie öffentliche Orientierung oder Touristik spielen graphische Zeichen in ihrer Gesamtheit eine eminente Rolle.
Auch für spezielle gesellschaftliche Gruppen, wie beispielsweise Hörgeschädigte, ist die – erst in jüngerer Zeit erfolgte –, Schaffung spezieller Zeichensysteme von nicht zu überschätzender Bedeutung.
Als Hochschulfach ist Signografie noch nicht etabliert. In meinem Unterricht im Fach Typografie an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle fließen signografische Aspekte an geeigneter Stelle in die Arbeit ein. Wer Interesse an signografischer Forschung hat, kann sich mit mir in Verbindung setzen (Kontaktformular auf der genannten Website).
Die Webseite signographie.de dient dem allgemeinen Austausch über signographische Fragen.[5] Die Schriftenreihe SIGNA[6] bietet die Möglichkeit, signografische Studien einer interessierten Öffentlichkeit vorzulegen; diese Veröffentlichungen dienen nicht zuletzt auch der Förderung des &8250;signografischen Gedankens‹ und seiner breiteren Verankerung im Bildungswesen.
[1] Signa Nr. 1, 2000. Grimma, Edition Wæchterpappel, 2000.Kurze Einführung in die Signografie
Was ist ein Zeichen?
Was ist ›graphisch‹?
Was ist ein graphisches Zeichen?
Warum ein eigenes Fach namens Signografie?
Wie erklärt sich die Bezeichnung ›Signografie‹?
Was ist Signografie?
Wozu Signografie?
Wie ist das Fach Signografie einzuordnen?
Was erforscht die Signografie?
Welchen praktischen Nutzen hat signografische Forschung?
Welchen gesellschaftlichen Nutzen hat signografische Forschung?
Kann man Signografie studieren?
Konkrete Aufgaben signografischer Arbeit
Das bisherige Fehlen signografischer Grundlagenforschung trifft dabei offen zutage. Durch den universalen signografischen Ansatz wird es möglich, die Gesamtheit der Zeichen durch ein größeres Glas als die &8250;Schriftbrille‹ zu betrachten und zu verstehen.
Anmerkungen
[2] Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2. Auflage, Stuttgart/Weimar, Metzler, 2000; S. 133.
[3] Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris, Minuit, 1967. (zitiert nach Nöth, S. 557)
[4] siehe hierzu eine aktuelle Aufstellung signografischer Thematik in dem Dokument Themen der Signografie (PDF)
[5] Die Webseite signographie.de wird von Ingo Preuß (Heidelberg) und Andreas Stötzner (Leipzig) auf unabhängiger Basis betrieben. Dahinter steht keine Firma oder Institution.
[6] Signa erscheint ein- bis zweimal jährlich im Verlag Edition Wæchterpappel der Denkmalschmiede Höfgen gGmbH www.hoefgen.de
[7] Eine Veröffentlichung hierzu in Signa ist geplant.