Siebzehnter Juni 1953
In den Tagen um den 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu einer Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten, die als Volksaufstand des 17. Juni bezeichnet werden.
Table of contents |
2 Normenerhöhung 3 Neuer Kurs 4 16. Juni 5 17. Juni 6 Beendigung des Aufstands 7 Opfer 8 Gedenktag 9 Literaturauswahl 10 Weblinks |
Hintergrund der Krise
Im Juli 1952 fand in Ost-Berlin die 2. Parteikonferenz der SED statt.
Unter dem Stichwort Walter Ulbrichts, dass der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ stattfinde, sollte der Prozess der 'Sowjetisierung' der Gesellschaft forciert und die Staatsmacht gestärkt werden.
Dies bedeutete zum Beispiel die Neueinteilung der fünf Länder in 14 Bezirke (plus Ostberlin), vor allem aber auch einen Angriff auf die verbliebenen Mittelschichten der DDR: Insbesondere Bauern und kleine Handels- und Gewerbebetriebe sollten durch erhöhte Abgaben zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit gezwungen werden.
Dieser Beschluss wurde allerdings vor dem Hintergrund einer katastrophalen ökonomischen Situation des Staates gefasst. Im Zuge der von den sowjetischen Behörden forcierten Militarisierung wuchsen die direkten und indirekten Militärausgaben stetig an und umfassten 1952 schon etwa 11% des gesamten Staatshaushaltes. Zusammen mit den Reparationsleistungen banden diese Ausgaben über 20% des Haushaltes. Die Wirtschaftspolitik der SED orientierte sich auf eine Bevorzugung der Schwerindustrie zu Lasten der Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie mit entsprechender Beeinträchtigung der Versorgungslage der Bevölkerung.
Das dramatische Anwachsen der ohnehin seit DDR-Staatsgründung konstant großen Abwanderungsbewegung im ersten Halbjahr 1953 stellte ebenfalls ein ökonomisches, natürlich aber auch ein soziales Problem dar. Weitere Faktoren, die zu einer Belastung der politischen Lage führten, waren die hohe Zahl von Strafgefangenen in der DDR, aber auch die Repression gegen die (fälschlicherweise) als zentrale Jugendorganisation der Evangelischen Kirche bezeichnete und bekämpfte "Junge Gemeinde".
Normenerhöhung
Vor diesem krisenhaften gesamtstaatlichen Hintergrund konnte die Erhöhung der Arbeitsnormen (also der für den Lohn zu erbringenden Arbeitsleistung), die das Zentralkomitee der SED am 13 und 14. Mai 1953 beschloss und der Ministerrat am 28. Mai bestätigte, durchaus als Provokation empfunden werden. Mit der Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent bis zum 30. Juni, dem 60. Geburtstag Walter Ulbrichts, wollte das ZK den wirtschaftlichen Schwierigkeiten begegnen. Als Empfehlung herausgegeben, handelte es sich aber faktisch um eine Anweisung, die in allen volkseigenen Betrieben durchgeführt werden sollte und letztlich auf eine Lohnsenkung hinausgelaufen wäre.
Neuer Kurs
Währenddessen hatte sich die Führung der Sowjetunion ihre eigenen Gedanken zur Lage in der DDR gemacht und konzipierte Ende Mai die „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“, die einer nach Moskau bestellten SED-Delegation am 2. Juni 1953 mitgeteilt wurden. Bitten von SED-Politikern um einen vorsichtigeren und langsameren Kurswechsel wurden etwa vom neuen Hohen Kommissar Wladimir Semjonov – dem ranghöchsten sowjetischen Vertreter in der DDR, der der DDR-Führung faktisch übergeordnet war – mit dem Satz „In 14 Tagen werden sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben“ abgebürstet.
Am 11. Juni wurde der „Neue Kurs“ des Politbüros schließlich im Neuen Deutschland verkündet: Darin war durchaus Selbstkritik enthalten. Einige Maßnahmen zum 'Aufbau des Sozialismus' wurden auch zurückgenommen. So sollten Steuer- und Preiserhöhungen aufgehoben werden. Handwerker, Einzelhändler und private Industriebetriebe konnten die Rückgabe ihrer Geschäfte und Betriebe beantragen. Alle Verhaftungen und Urteile sollten überprüft werden. Der Kampf gegen die Junge Gemeinde wurde eingestellt. Unter dem Strich profitierten vor allem die verbliebenen bürgerlichen Mittelschichten sowie die Bauern vom „Neuen Kurs“, während die Arbeiter von Vergünstigungen weitgehend ausgenommen blieben. So blieb die umstrittene Arbeitsnormenerhöhung bestehen, was zu ersten Unmutsäußerungen bei den Arbeitern führte.
Der Kurswechsel der Regierung wurde in allen Teilen der Bevölkerung mit großem Interesse und teilweise durchaus positiv aufgenommen. Vielfach wurde der Neue Kurs in der Bevölkerung aber auch als „Bankrotterklärung der SED-Diktatur“ gedeutet. In den folgenden Tagen kam es zu ersten kleineren Protestversammlungen und Demonstrationen.
Am 14. Juni erschien im „Neuen Deutschland“ der Artikel "Es ist Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen", der die Durchsetzung der Normenerhöhung anhand einer Reportage über das Baugewerbe kritisch beleuchtete, ohne sie dabei allerdings generell infrage zu stellen. Dieser Artikel wurde sehr stark beachtet und wirkte in Verbindung mit einem zwei Tage später in der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“ erschienenen Artikel, der die zehnprozentige Normenerhöhung als "in vollem Umfang richtig" rechtfertigte, als Auslöser von Protesten.
16. Juni
Am 16. Juni kam es an zwei Berliner Großbaustellen, dem Block 40 in der Stalinallee und dem Krankenhausneubau in Berlin-Friedrichshain, zu den ersten Arbeitsniederlegungen, die in den Vortagen informell abgesprochen worden waren. Von beiden Baustellen aus formierte sich ein zunächst kleiner Protestzug, der sich auf dem Weg zunächst zum Haus der Gewerkschaften des FDGB, dann zum Regierungssitz in der Leipziger Straße schnell – vor allem um weitere Bauarbeiter – vergrößerte.
Nachdem die Gewerkschaftsführer sich geweigert hatten, die Arbeiter anzuhören, wurde dem Demonstrationszug vor dem Regierungsgebäude die vom Politbüro am Mittag beschlossene Rücknahme der Normenerhöhung mitgeteilt. Inzwischen bewegten sich die Forderungen der Menge allerdings über diesen konkreten Anlass zum Protest hinaus. In einer zunehmenden Politisierung der Losungen wurden einerseits der Rücktritt der Regierung und freie Wahlen gefordert, andererseits Überlegungen über einen Generalstreik für den folgenden Tag angestellt.
Bereits am Abend des 15. Juni das Radio im amerikanischen Sektor (RIAS) detailliert über Streiks in der Ost-Berliner Stalin-Allee berichtet. Seit dem Mittag des 16. Juni berichtete der Sender ausführlich über die Streiks und Proteste, ohne dabei allerdings die Generalstreiksforderung zu senden. Am 17. Juni rief dann der Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski über den RIAS mehrmals dazu auf, "der Bewegung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGler und Eisenbahner beizutreten". Trotz einer relativ zurückhaltenden Darstellung der Ereignisse im Radio kann man davon ausgehen, dass die Berichte entscheidend dazu beigetragen haben, dass sich die Kunde von den Protesten in der Hauptstadt äußerst schnell in der ganzen DDR ausbreitete.
17. Juni
Am Morgen des 17. Juni brach im gesamten Gebiet der DDR etwas aus, was später als Aufstand des 17. Juni in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Die Belegschaften vor allem großer Betriebe traten mit Beginn der Frühschicht in Streik und formierten sich zu Demonstrationszügen, die sich in die Zentren der größeren Städte richteten. In den Tagen des Aufstandes war den westlichen Medien und wahrscheinlich auch den meisten Protestierenden die nationale Dimension der Proteste noch nicht bewusst. Der RIAS etwa berichtete fast ausschließlich aus Berlin. Tatsächlich kam es neueren Forschungen zufolge in weit über 500 Orten in der DDR zu Streiks, Kundgebungen oder Gewalttätigkeiten gegen offizielle Personen oder Einrichtungen.
Schwerpunkte lagen in Berlin und den traditionellen Industrieregionen, etwa dem 'Chemiedreieck' um Halle. Die Zahl der am Protest Beteiligten lässt sich nicht genau bestimmen, Angaben schwanken zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen. Die vielfältigen Proteste fanden durchgehend sehr spontan statt, es gab praktisch weder eine über den Tag hinausgehende Zielplanung, noch echte Führungskräfte, die den Aufstand überregional dirigiert hätten. Neben Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen kam es an mehreren Orten auch zu Erstürmungen von Haftanstalten und Befreiung von Häftlingen. Vereinzelt kam es zu Brandstiftungen, am spektakulärsten war der dabei der Brand des Vorzeige-HO-Kaufhauses Columbus in Berlin.
Die meisten Protestierenden waren Arbeiter. Bis 1989 wurde der Aufstand in der westdeutschen DDR-Forschung dementsprechend primär als Arbeiteraufstand betrachtet. Inzwischen ist die Literatur aber vom Begriff des Arbeiteraufstandes abgegangen, weil am 17. Juni das Widerstandspotential der ganzen Gesellschaft gegen die kommunistische Diktatur aktiviert wurde. Der Berliner Arbeiterprotest gegen die Normenerhöhung wirkte als Auslöser für eine regelrechte Volkserhebung, die in der schlechten Stimmung der gesamten Bevölkerung – noch verstärkt nach dem überraschenden Kurswechsel vom 10. Juni – ihren Nährboden fand. Beteiligt an den Demonstrationen waren auch solche Schichten und Berufsgruppen und deren Angehörige, die in der SBZ und DDR ihre Privilegien oder Teile ihrer Besitztümer verloren hatten, wie Großbauern, Vermieter, Werksbesitzer, Ärzte, Pfarrer, entnazifizierte Lehrer und Beamte, Offiziere, ehemalige Reiche und ehemalige Besserverdienende. Daneben stießen in Berlin auch Westberliner dazu.
Die Polizei war mit der Entwicklung der Ereignisse letztlich hoffnungslos überfordert, teilweise liefen Volkspolizisten sogar zu den Demonstranten über. Die DDR-Regierung flüchtete sich nach Karlshorst unter den Schutz der sowjetischen Behörden. Man darf daher annehmen, dass ohne sowjetische Truppen der Aufstand wohl nicht niedergeschlagen worden wäre. (Der Vergleich mit dem Sturz der SED 1989 ist in dieser Hinsicht interessant.) Andererseits wurde die von den Demonstrationsführern und über westliche Radiosender verbreiteten Aufrufen zum Generalstreik nur von einer Minderheit der Arbeiter und Werktätigen befolgt.
Um 14 Uhr wurde eine Erklärung des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl im DDR-Rundfunk ausgestrahlt: Darin wurde ausdrücklich noch einmal die Rücknahme der Normenerhöhungen erklärt. Der Aufstand jedoch sei "das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen". Alle "Arbeiter und ehrlichen Bürger" forderte er auf, mitzuhelfen, "die Provokateure zu ergreifen und den Staatsorganen zu übergeben". Diese Darstellung der Ereignisse als von außen inszenierten, konterrevolutionären Putschversuch entsprach in etwa schon der späteren offiziellen Lesart des 17. Juni in der DDR-Geschichtsschreibung.
Beendigung des Aufstands
Die sowjetischen Behörden reagierten mit der Verhängung des Ausnahmezustands für weite Teile der DDR. Mit dieser Ausrufung des Kriegsrechts übernahm die Sowjetunion offiziell wieder die Regierungsgewalt über die DDR. Die ab 10 Uhr in Berlin, in den Bezirken zeitversetzt gegen Mittag oder Nachmittag einrückenden sowjetischen Truppen demonstrierten vor allem Präsenz, denn mit dem Eintreffen der Panzer verlor der Aufstand schnell an Schwung; zu größeren Angriffen auf die Militärs kam es nicht. Insgesamt waren 16 sowjetische Divisionen mit etwa 20.000 Soldaten im Einsatz, sowie rund 8.000 Angehörige der Kasernierten Volkspolizei (KVP).
Obwohl die sowjetischen Behörden die Situation schon am 17. Juni weitgehend unter Kontrolle brachten, kam es auch in den darauffolgenden Tagen noch zu Protesten, vor allem am 18. Juni, in einzelnen Betrieben aber auch noch bis in den Juli hinein. So wurde am 10 und 11. Juli bei Carl Zeiss Jena und am 16 und 17. Juli im Buna-Werk Schkopau gestreikt. Die Intensität des 17. Juni wurde aber nicht mehr annähernd erreicht.
Intensiv war statt dessen eine erste Verhaftungswelle. Mit etwa 6.000 Verhaftungen durch Polizei, MfS und Rote Armee wurden vor allem so genannte 'Provokateure' verfolgt. Die meisten wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Die spätere Strafverfolgung wurde weniger exzessiv betrieben als die Verhaftungen. Möglicherweise hat die Solidarisierung vieler Arbeiter mit ihren in Haft genommenen Kollegen dabei eine mäßigende Rolle gespielt.
Bekanntestes Opfer ist sicherlich der von einem sowjetischen Panzer überrollte friedliche Demonstrant; diese Szene findet immer wieder als eines der wenigen Filmmaterialien Verwendung.
Opfer
Bis heute ist nicht klar, wie viele Menschen insgesamt während des Aufstands und in seiner Folge durch Todesurteile tatsächlich ums Leben kamen. Offiziell wurden 51 Menschen getötet. Laut einer Studie des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), die sich auf neue Recherchen (2004) verloren mindestens 55 Menschen ihr Leben. Am 17. Juni und den Tagen danach wurden 34 Demonstranten und Zuschauer von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen oder verloren ihr Leben an den Folgen von Schussverletzungen. Durch die Todesurteile von sowjetischen und DDR-Gerichten wurden Sieben hingerichtet. Durch die Folge der Haftbedingungen starben vier Personen und vier Menschen begingen in Haft Selbstmord. Beim Sturm auf ein Polizeirevier starb ein Demonstrant an Herzversagen. Zudem wurden fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane getötet. Bisher war im Westen von 507 und in der DDR von 25 Toten die Rede.Gedenktag
In Gedenken an den Aufstand in der DDR war der 17. Juni ab 1954 Nationalfeiertag in der Bundesrepublik Deutschland; seit 1990 ist er nationaler Gedenktag, wurde im gleichen Jahr in seiner Bedeutung aber offiziell vom Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober, abgelöst.Literaturauswahl
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