Roter Holocaust
Der Begriff Roter Holocaust wurde seit der Veröffentlichung des Schwarzbuch des Kommunismus in die politische Diskussion eingeführt. Laut dem Historiker Hans-Ulrich Wehler knüpft Stéphane Courtois in seinem Vorwort inhaltlich an den durch den Historiker Ernst Nolte verursachten Historikerstreit an, der u. a. mit der Gleichsetzung von Rassenmord und Klassenmord bisherige Standards in der Bewertung des Deutschen Faschismus zu verwischen suche, was weitestgehend auf Ablehnung stieß.Anstatt für die Verbrechen kommunistischer Regierungen einen neuen Begriff zu kreieren, der sich von der industriellen Tötung der europäischen Juden und anderer Gruppen wissenschaftlich klar absetzt, kommt es mit "Roter H." notwendigerweise zu einer Relativierung "des Holocaust", der im Sprachgebrauch der letzten Jahrzehnte synonym mit den deutschen Verbrechen benutzt wird, und von daher seit Jahren ein "Fachbegriff" ist, der auch in der Öffentlichkeit Gültigkeit erlangt hat (üblicherweise wird das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" als "Holocaust-Denk- oder Mahnmal" bezeichnet und verstanden).
Unter direktem Hinweis auf den Totalitarismus hat der Herausgeber des Schwarzbuch, Stéphane Courtois, gegen die Auffassung wichtiger Mitarbeiter daran (Werth und Margolin) die ca. 25 Millionen getöteter Menschen im 12-jährigen 1000-jährigem Reich mit jenen ca. 80 bis 100 Millionen getöteter im 20 Jahrhundert durch "den" Kommunismus verglichen, u. a. weil durch die Betonung der "Singularität" der faschistischen Verbrechen die kommunistischen Verbrechen zu wenig beachtet würden.
Es muss verwundern, wenn ein so ausgeprägter Begriff wie "Roter Terror", der zudem von der Russischen Kommunistischen Partei selbst öffentlich geprägt, ja, als Bestandteil des Terros genutzt wurde (Werth in: Schwarzbuch des K.), nicht innerhalb der historischen Begrifflichkeit verwendet werden soll. Dieser Konflikt, der jenseits jeden Zahlenvergleichs der Opfer und bei einer völligen Akzeptanz kommunistischer Verbechen besteht, ist nur durch eine differenzierte Analyse beizulegen.
Im historischen Fachdisput ist moralisch zu akzeptieren, dass ein getötetes Kulackenkind so viel wiegt wie ein in der Gaskammer getötes Kind der Juden (Courtois in: Schwarzbuch des K.). Es ist aber nicht der gleiche Prozess, in dem die Tötungen stattfanden.
Der industriellen Ausrottung der "Rasse" der Juden (wovon die Nationalsozialisten mit ihrer " Rassenlehre" ausgingen), die jenseits eines realen Konflikts stattfand (es gab keinen Widerstand der jüdischen "Rasse"), stehen in der UdSSR Terror und Mord einer politisch aktiven Bevölkerungs-Mehrheit gegenüber, wobei offenbar durchaus bei der Verfolgung zur Selektion Begriffe wie "Klasse" benutzt wurden, jedoch die Ausführung nicht industriell-systematisch, sondern primär eben terroristisch durchgeführt wurde; aus den sowjetischen Lagern (Gulag), die wie bei den deutschen Nationalsozialisten eine "Vernichtung durch Arbeit" intendierten, gab es die Möglichkeit der Entlassung, die zu bestimmter Zeit massenhaft stattfand; andere Mitglieder dieser Gruppen wurden ausgewiesen.
Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Frage, ob sinnvoll Mord und Terror der Anfangsjahrzehnte der "klassischen" Kommunistischen Staaten, wie UdSSR und (Rot-) China, mit denen in einem späteren sich als sozialistisch/ kommunistisch verstehenden Regime in der sogenannten "Dritten Welt" sinnvoll in einen Begriff zu vereinen ist, einem Regime, das nicht wirklich auf der marxistisch-leninistischen Theorie als Staat entwickelt wurde, sondern sich primär - zuerst meist als Befreiungsbewegung - als unter dem Schutz der UdSSR definierte ("Satelliten" im Kalten Krieg).
Unabhängig von der Zugehörigkeit zu den Phänomenen des Faschismus oder des Kommunismus sind andere Völkermorde, wie der in Ruanda, wo weitgehend ein organisierter Mob mit einfachen Hieb- und Stich-Waffen die in der Nachbarschaft lebenden Tutsi ermordete, mit jeweils spezifischen Begriffen zu fassen. Niemand ist letztlich gehindert, für verschiedene Typen solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen Index der Jahrestoten aufzustellen und zu vergleichen, und andere mögen über den Sinn urteilen, Opfer von Gaskammern mit gezielt verursachten Hungertoten aufzurechnen.
Und letztlich müssen sich Anhänger des "großen Überbegriffs Holocaust" fragen lassen, wie sie 1. die kommunistische historische Entwicklung mit humanitären Zielen, die fast so alt wie die Menschheit sind, 2. die Gründergeneration des Sozialismus im 19. Jahrhundert, auf die sich zumindest die UdSSR und China - aber ebenso die früher marxistisch-orientierten Sozialdemokratischen Parteien ausdrücklich berufen, und 3. jene kommunistische Bewegungen weltweit, die sich keine Verbrechen zuschulden kommen liessen, begrifflich differenzieren wollen. Nicht zuletzt werden ohne solche Differenzierung auch viele der Opfer diskreditiert, die für ihr Festhalten an kommunistischen Idealen ermordet wurden.
Courtois (in: Nachwort, Schwarzbuch des K.) hat immerhin die deutliche Trennung gemacht, die Verbrechen begännen mit Lenin (was in der Fachwelt längst unstrittig ist, wenn die Tiefe der Verstrickung durch Werth auch intensiver nachgewiesen wird). Schon in der Debatte um die Folgen der Pariser Kommune habe Marx sich gegen Bakunin durchgesetzt und die "interne Debatte der sozialistischen Arbeiterbewegung über terroristische Gewalt" sei zu jenem Zeitpunkt gegen solche Gewalt nahezu entschieden gewesen. Können also die Bolschewiken und Sozialdemokraten bis hin zu den italienischen "Euro-Kommunisten" gleichermaßen unter einen Begriff gebracht werden, bei dem durchgängig Kommunismus unter dem Bezug auf die "geschichtliche Berufung des Proletariats" eine "kriminogene Ideologie" intendiert hätte (Courtois)?.
Das 20. Jahrhundert ist - unstrittig - auch von unermesslichen kommunistischen Verbrechen gekennzeichnet, die mit der Russischen Revolution schon 1917 unter Lenins "Rotem Terror" begannen, die unter Stalin neue und alte Formen annahmen, unter Mao Tse Tung in China mit der "Kulturrevolution" erneut eine andere Qualität bekamen. Dies gilt es auch begrifflich herauszuarbeiten. Eine der entstehenden Fragestellungen mag durchaus jene sein, die Courtois (in: Nachwort, Schwarzbuch des K.) stellt: "Wurzelte der Marxisnus-Leninismus vielleicht weniger in Marx als in einem verfehlten Darwinismus, der sich der sozialen Frage zuwendet und dabei auf die gleichen Irrwege gerät wie die rassische Frage?" (S. 821).
Und da genau beginnt ein neuer "HistorikerInnenstreit": Ist "Sozialdarwinismus" - der von z. B. Marx/ Engels wie von Darwin entschieden abgelehnt wurde - mit der generell unterstellten "kriminogenen Ideologie" wichtiger Strömungen der Kommunisten ideengeschichtlich gleichzusetzen mit Vorstellungen der deutschen Faschisten? Wäre die Ansicht, das Stärkere solle sich - zudem in "historischer Mission" - durchsetzen, identisch mit der Vorstellung, es gelte die Reinheit des ("germanischen") Blutes zu wahren, um nicht selbst - als "Rasse" - degeneriert zu werden?