Raubpressung
Raubpressung, Schwarzpressung, Bootleg
Eine Raubpressung oder Schwarzpressung (englisch: Bootleg) ist eine illegal hergestellte Langspielplatte oder CD mit offiziell nicht erhältlichen Konzertmitschnitten oder Studioaufnahmen. Sie ist zu unterscheiden vom Counterfeit, der täuschend ähnlichen Kopie einer offiziell erschienenen Platte, wobei Plattenfirmen und Musiker um ihren Gewinn geprellt werden. Sammler von Bootlegs lehnen in aller Regel die Counterfeits ab. Sie sammeln die Bootlegs, weil sie sämtliche erreichbaren Aufnahmen ihrer Lieblingsmusiker besitzen wollen. Es ist extrem selten, dass jemand nur Bootlegs sammelt; in der Regel besitzen die Bootleg-Sammler auch alle offiziellen Platten ihrer Idole. Die Musikindustrie tendiert immer dazu, keinen Unterschied zwischen Bootleg und Counterfeit zu machen.
In der Literatur werden Bootlegs zwiespältig beurteilt. Rechtlich gesehen sind es illegale Aufnahmen. Musikhistorisch betrachtet werden mit den Bootlegs Musikaufnahmen konserviert, die einen beträchtlichen historischen Wert aufweisen können und damit eine wertvolle ergänzende Überlieferung zum offiziell erschienenen Werk von Musikern darstellen. Die musikalische Würdigung großer Künstler aus der Rockmusik wäre ohne Bootlegs unvollständig. Deshalb gibt es Musiker, die Bootlegs tolerieren oder sie sogar selbst kaufen. Bruce Springsteen dagegen verhielt sich ambivalent: Am Anfang seiner Karriere trat er offen für die Bootlegs ein; als er aber die ersten großen Erfolge verzeichnen konnte, klagte er gegen Bootlegger.
Der wirtschaftliche Schaden durch Bootlegs dürfte sich jedoch für die Plattenfirmen und die Künstler in Grenzen halten, weil sie in der Relation zu den offiziellen Platten nur in relativ geringer Auflage an die Fans verkauft werden. Es wäre der Musikindustrie nicht möglich, sämtliche auf Bootlegs erschienenen Aufnahmen offiziell zu veröffentlichen, zumal nur leidenschaftliche Fans die hundertste Live-Version eines Songs besitzen wollen. Seitdem Musikstücke massenweise am heimischen Personal Computer auf CD gebrannt werden, haben die Bootlegs ihre Bedeutung verloren. Nun ist ein umfangreicher Tauschhandel entstanden, bei dem Konzertmitschnitte getauscht werden, ohne dass Geld fließt. Entsprechend ist die Produktion industriell hergestellter Bootleg-CDs stark geschrumpft und heute nur noch als Randphänomen zu betrachten.
Bereits mit dem Aufkommen der Wachszylinder als Aufnahmemedium begann auch die Geschichte der unautorisierten Aufnahmen. In der Metropolitan Opera in New York nahm bereits kurz nach 1900 ein Opernfan mit seinem Aufnahmetrichter hinter der Bühne ohne Wissen der Künstler ihre Darbietungen auf und produzierte die ersten Bootlegs. In den folgenden Jahrzehnten waren es vor allem Opernliebhaber, die Radiosendungen von Opern auf Schallplatten pressen ließen. Die ersten Gesamtaufnahmen von Opern stammen von Bootleggern, ebenso die ersten Stereo-Aufnahmen bestimmter Opernaufführungen. Auch die umfangreichen Begleittexte zu den Platten (englisch: liner notes) erschienen zuerst auf Bootlegs. Aber erst mit dem Aufkommen der Rockmusik begann die große Zeit der Bootlegs.
Am Ende der 1960er Jahre blühte die Rockmusik auf und entwickelte sich von der reinen Unterhaltungsware zur ernsthaften Kunstform. Die neuen Idole wie Bob Dylan, die Rolling Stones, die Doors oder Led Zeppelin wurden vor allem durch ihre Konzerttourneen bekannt. Platten mit Konzertmitschnitten gab es kaum; deshalb entstand bei den Fans der Wunsch, Live-Aufnahmen ihrer Idole zu besitzen.
Das erste bedeutende Bootleg enthielt jedoch noch ausschließlich Studio-Aufnahmen. Zwei junge Männer aus Kalifornien produzierten 1969 das erste Rock-Bootleg „Great White Wonder“ mit Aufnahmen, die Bob Dylan nicht offiziell erscheinen lassen wollte: „Ausschnitte aus den sogenannten „Basement Tapes“. Das Cover war weiß und trug nur den Stempel „GWW“. Obwohl die Musikindustrie sofort Gegenmaßnahmen ergriff, war die Produktion weiterer Raubpressungen nicht mehr zu stoppen.
Als sensationell empfand man die Veröffentlichung eines hochwertigen Konzertmitschnitts der Rolling Stones (Oakland Coliseum, 9. November 1969) unter dem Titel Live’r than you’ll ever be;. Sogar im „Rolling Stone“ erschien eine Besprechung, und es wurde behauptet, dass es sich um eine Stereoaufnahme handle und dass die Rolling Stones selbst das Band zur Verfügung gestellt hätten. Beides traf nicht zu, brachte aber den Bootleggern ein erhöhtes Prestige ein, zumal sie im Ruf standen, die Musik aus den Händen der geldgierigen Industrie befreit zu haben. Die Rolling Stones sahen sich veranlasst, ein Live-Album „Get yer ya-ya’s out!“ als Reaktion auf die Raubpressung zu veröffentlichen. Freilich war auf der Raubpressung die Atmosphäre des Konzerts zu spüren, während die offizielle Veröffentlichung im Studio stark nachbearbeitet wurde.
Eine weitere wichtige Veröffentlichung stammte von den Beatles: die unbearbeitete Version von „Let it be“, also die Fassung, bevor Phil Spector das Material mit Streichern und Chören aufgeschwemmt hatte. „Get back, and 12 other songs“ war das Album, wie es sich die Beatles vorgestellt hatten. Offiziell wurden diese Aufnahmen erst im Frühjahr 2004 unter dem Titel Let It Be ... Naked veröffentlicht.
Bald entstand im Untergrund eine regelrechte Industrie. Bootleg-Firmen wie „Trademark of Quality“, „The Amazing Kornyphone Record Label“, „Vicky Vinyl“ brachten ganze Serien von Konzertmitschnitten auf Schallplatten heraus. Die Zahl der Titel wuchs stetig an, obwohl die Plattenindustrie Bootlegger strafrechtlich verfolgen ließ. Die Tonqualität der Raubpressungen reichte von exzellent bis schauderhaft, aber das Gerücht, wonach diese Platten ausschließlich katastrophale Aufnahmen enthalten würden, entsprang wohl eher dem Wunschdenken der Industrie. Am weitesten verbreitet waren Konzertmitschnitte und Studioaufnahmen der großen Rockstars: Bob Dylan, Rolling Stones, The Beatles, Led Zeppelin, The Who, David Bowie, Deep Purple, Frank Zappa. Für manche Künstler war es eine Frage des Prestiges, dass Raubpressungen von ihren Konzerten erschienen – ein Indiz dafür, dass sie es geschafft hatten. Von Mick Jagger ist bekannt, dass er Bootlegs sammelte. The Who ließen ihre Platte Live at Leeds in der Aufmachung einer Raubpressung erscheinen. Paul McCartney betitelte eine seiner Live-Alben The Official Bootleg.
Zahlreiche Konzerte der Beatles wurden auf Raubpressungen veröffentlicht, freilich in sehr unterschiedlicher Qualität. Weit bedeutender sind die Studioaufnahmen, etwa aus den Aufnahmesitzungen zur Platte „Let it be“. Dort bekommt man einen Eindruck davon, wie die Beatles im Studio arbeiteten. Übrigens stammen einige Bootlegs offensichtlich von Bändern, die im Studio als entbehrlich weggeworfen und in die Hände von Sammlern gelangt waren. Dasselbe passierte bei Elvis Presley, als ein Fan Bänder von RCA-Aufnahmen für die Elvis-Filme fand und sie unter dem Titel Behind closed doors 1976 in einer 4-LP-Box veröffentlichte.
Eine der ersten Rolling Stones-Bootlegs mit dem Titel Bright lights big city enthielt die Demo-Aufnahmen für IBC aus dem Jahr 1962 in sehr guter Qualität. Bald darauf erschienen die legendären Konzerte im Hyde Park 1969 und einige Songs aus Altamont 1969. Die Aufnahmen von der US-Tournee 1972 und der Europa-Tournee 1973 zeigen den Gitarristen Mick Taylor in absoluter Hochform. Die Aufnahmen von den Konzerten in London und Brüssel vom September/Oktober 1973, als offizielle Live-Platte vorgesehen und aus rechtlichen Gründen nicht veröffentlicht, dürften die besten Konzertaufnahmen der Rolling Stones überhaupt sein. Sie entstammen einer Radiosendung von Radio Luxemburg. Von weiteren Tourneen wurden Radiomitschnitte auf Platten und CDs gepresst, z.B. Passaic und Fort Worth 1978, Hampton 1981, Atlantic City 1989, London 1990, Miami 1995. Interessanter sind häufig die Publikumsmitschnitte, da bei den Radioaufnahmen mit einer erheblichen Nachbearbeitung und mit zahlreichen Overdubs zu rechnen ist.
Bob Dylan gehört zu den Künstlern mit den meisten Bootleg-Veröffentlichungen. Jahre nach dem Erscheinen der Raubpressung Great White Wonder; veröffentlichte er 1975 die darauf enthaltenen „Basement Tapes“ offiziell. Auch eine Aufnahmesession mit Johnny Cash war nur auf einer Raubpressung erhältlich. Ansonsten erschienen unzählige Platten mit Konzertaufnahmen von ihm, darunter das Konzert mit The Band in Manchester 1966 (unter dem Titel Live at the Royal Albert Hall) oder der berühmte Auftritt beim Isle of Wight Festival 1970. Bis zur Gegenwart gibt es nur wenige Konzerte, von denen kein Tondokument existiert. Bob Dylan nimmt in seiner offiziell erschienenen Plattenreihe The Bootleg Series - in der auch der von den Raubpressungen bekannte Konzertmitschnitt aus Manchester 1966 in brillanter Qualität erschienen ist - mit unveröffentlichten Live-Aufnahmen direkten Bezug auf die Raubpressungen.
Weniger Raubpressungen gibt es von Elvis Presley, da von ihm zahlreiche Live-Aufnahmen auf offiziellen Platten erschienen sind. Interessant sind die legendären Sessions des "Million Dollar Quartet mit Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins' von 1954, wobei die Mitwirkung von Elvis bereits in Frage gestellt wurde, da sie wegen mangelhafter Tonqualität nicht nachzuweisen ist. Von den Aufnahmesessions zum Album Blue Hawaii (1962) sind Mitschnitte der Studiosessions erschienen, mit denen beispielsweise die Entstehung des Hits Can't help falling in love with you detailliert nachzuvollziehen ist.
Den Höhepunkt der Bootleg-Veröffentlichungen bildete das 70-LP-Paket „The final option“ von Led Zeppelin. In dieser Luxusausgabe in einem Plexiglas-Koffer, limitiert auf 150 Exemplare, waren die besten Aufnahmen der Gruppe versammelt. Eine solche breite Anthologie hat es sonst nicht mehr gegeben.
Ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Raubpressungen für die Würdigung einer Musikkarriere ist Van Morrison, ein Künstler, der immer wieder Konzerte für das Radio mitschneiden ließ. Anhand dieser Radiomitschnitte kann man seine gesamte Konzertkarriere verfolgen, da eine Nachbearbeitung in aller Regel nicht mehr stattfand. Von den frühesten Aufnahmen 1970 bis zu den Radiomitschnitten der Jahre nach 2000 dürfte die Zahl seiner Radiokonzerte bei über 100 liegen. Einige davon (z.B. San Francisco 1971, New York und Los Angeles 1978, Essen 1982, Montreux Jazz Festival 1980, 1984 und 1990, Dublin 1995, Basel 2000) übertreffen die offiziellen Liveplatten mit Ausnahme des Albums „It’s too late to stop now“ deutlich, was Repertoire und Darbietung angeht. Aber es gibt auch exzellente Mitschnitte, die aus dem Publikum heraus gemacht wurden. Von der Doppel-CD „Pagan Streams“ (Utrecht 1991) war Van Morrison so angetan, dass er einige Stücke von der Raubpressung auf einer offiziellen Maxi-CD veröffentlichte.Geschichte des Bootlegs
Rockmusik und Bootlegs