Radikaler Pietismus
Radikaler Pietismus meint eine kirchenkritische Strömung innerhalb des Pietismus. Die radikalen Pietisten waren davon überzeugt, dass wahres Christentum nur außerhalb des verfassten Kirche gelebt werden könne. Deshalb blieben sie den Gottesdiensten und Abendmahlsfeiern fern. Viele verweigerten Taufe und Konfirmation der Kinder und hielten diese von der Schule fern. Außerdem lehnten die radikalen Pietisten die Eidesleistung und den Militärdienst ab.Die Bewegung kam mit dem Pietismus im späten 17. Jahrhundert auf. Rasch entwickelte sich ein internationales Netzwerk von Gleichgesinnten. Zur Verbreitung radikalpietistischer Gedanken trugen vor allem Erbauungsbücher bei. Es entstand eine eigene radikalpietistische Bibelausgabe mit Kommentaren heterodoxer Ausrichtung, die Berleburger Bibel. Auch ein eigenes Liederbuch, das Davidische Psalterspiel wurde in den Versammlungen benutzt.
Die Zentren des Radikalen Pietismus in Deutschland befanden sich in der hessischen Wetterau, am Niederrhein, in der Grafschaft Isenburg-Büdingen und im Herzogtum Württemberg. Geistesgeschichtlich entfaltete der Radikale Pietismus eine starke Wirkung; dagegen blieb er personell eine Randerscheinung innerhalb des Pietismus.
So hat der Pietismus überhaupt und insbesondere der Rdikalpietismus wesentlich zur Ausbildung der individuellen Persönlichkeit beigetragen. Gelichzeitig entstanden Versammlungen, die als Form der Kommunikation neben die offizielle Kirche traten. Durch die Lektüre der Erbauungsbücher stieg die Literalität. Im Radikalen Pietismus nahmen vielerorts die Frauen eine starke Stellung ein und konnten sogar in religiöser Hinsicht gleichberechtigt mit den Männern auftreten.
An wichtigen Schriftstellern sind zu nennen:
- Jakob Böhme: (Hauptwerk: "Die Morgenröte im Aufgang") plädierte für die sexuelle Askese, die in einigen Gemeinschaften tatsächlich praktiziert wurde
- Christian Hoburg (Hauptwerk "Der unbekannte Christus") polemisierte gegen den Wahrheitsanspruch der Konfessionen
- Johann Tennhardt
- Johann Henrich Reitz: (Hauptwerk "Historie der Wiedergebohrnen")
- Gottfried Arnold (Theologe) (Hauptwerk "Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie") war der Wegbereiter einer modernen, kritischen kirchengeschichtlichen Forschung
- Johann Daniel Müller (*1716) wirkte als Konzertdirektor in Frankfurt am Main im Umkreis des jungen Goethe und wurde dann als Begründer der Vereinigungskirche "Offenbarung Christi" zum Autor von mindestens 27 Büchern, darunter "Elias mit dem Alcoran Mahomeds"
Auch Theologen, die sich zeitlebens nie von der Kirche trennten, wurden maßgeblich vom Radikalen Pietismus geprägt, so zum Beispiel in Württemberg Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Philipp Matthäus Hahn oder der Laienprediger Michael Hahn.
Im frühen 19. Jahrhundert begründeten württembergische Radikalpietisten ("Separatisten") kommunitaristische Siedlungsprojekte in den Vereinigten Staaten:
- Johann Georg Rapp (1757-1847), Leinenweber aus Iptingen und bedeutendster württembergischer Separatistenführer, errichtete drei aufeinanderfolgende Siedlungen:
- Harmony (Pennsylvania) (1804-1814),
- New Harmony (Indiana) (1814-1824),
- Economy (Pennsylvania) (seit 1824).
Ein Kreis von Separatisten um eine Gruppe in Rottenacker begründete 1817 die Siedlung Zoar (Ohio). Auch hier gab es kein Privateigentum, aber die sexuelle Askese galt nur wenige Jahre lang. Die Zoar Society wurde 1898 aufgelöst.
Die Siedlungen der württembergischen Radikalpietisten in den Vereinigten Staaten wurden von Friedrich Engels als Vorbild einer kommunistischen Gesellschaft angeführt [1] und können als wesentliche Inspiration für "Das kommunistische Manifest" gelten.