Radikaler Konstruktivismus
Der radikale Konstruktivismus ist eine interdisziplinäre Forschungsrichtung aus der Biologie, Psychologie, Philosophie, Mathematik, Kybernetik und Soziologie, findet aber auch empirische Anwendung in der Managementwissenschaft, Psychiatrie oder Literaturwissenschaft. In Deutschland wurde er vor allem durch Veröffentlichungen von Paul Watzlawick populär. Der radikale Konstruktivismus wird häufig mit dem Konstruktivismus verwechselt (insbesondere, da er in der Literatur zum radikalen Konstruktivismus meistens einfach nur als Konstruktivismus bezeichnet wird), unterscheidet sich von diesem jedoch. Diese Begriffsverwirrung begründete schon die Umbenennung "benachbarter" Theorien, wie das etwa Peter Janich beim methodischen Kulturalismus Ende der 1990er vollführte. Der radikale Konstruktivismus bezeichnet sich selber eher als "eine Art zu denken" denn als geschlossene Theorie.Grundlegend geht der radikale Konstruktivismus davon aus, dass all unser Wissen über die Welt durch unser Gehirn aus Sinneswahrnehmungen konstruiert und dass eine objektive Erkenntnis nicht möglich ist, sondern höchstens Intersubjektivität erreicht werden kann. Danach ist der Mensch auf die Daten, die ihm seine Sinnesorgane liefern, beschränkt, und jede Erkenntnis ist eine Konstruktion aus diesen Daten.
Siehe auch: Sozialkonstruktivismus, soziologische Systemtheorie
Table of contents |
2 Konstruktivismus als Folge eines Perspektivwechsels 3 Kritik an Gerhard Roth 4 Schluss 5 Weblinks 6 Siehe auch |
1970 veröffentlicht der chilenische Physiologie-Professor Humberto R. Maturana den Forschungsbericht Biology of Cognition (Link auf den Text), in welchem er einen "genialischen Welt- und Seinsentwurf" (so Gerhard Roth) vorstellt, der später als Konstruktivismus oder radikaler Konstruktivismus in die internationale Diskussion eingeht. In den Jahren nach dieser Veröffentlichung haben sich die von der Kybernetik zweiter Ordnung beeinflussten Ideen Maturanas, die von anderen Denkern wie Francisco Varela, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld und anderen aufgegriffen und weitergeführt werden, als äußerst fruchtbar erwiesen. Dabei erwies sich der Konstruktivismus als empirisch fundierte Alternative zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus, beispielsweise dem kritischen Realismus, und wurde auch von Hirnforschern, etwa dem Neurobiologen Gerhard Roth, als Grundlage für seine Forschungen aufgegriffen.
Folgende Zitate entstammen aus Gerhard Roths Aufsätzen "Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit" sowie "Autopoiese und Kognition: Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung", veröffentlicht in dem Sammelband "Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus", herausgegeben von Siegfried Schmidt, suhrkamp, 1996.
Gerhard Roth beginnt seine Untersuchungen mit der Schilderung des Welterlebens aus Sicht des kritischen Realismus (hierunter fällt zum Beispiel die Philosophie Karl Poppers):
"Die alltägliche sinnliche Erfahrung erweckt in uns den Eindruck, daß unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt steht: die visuelle Welt ist uns im wahrsten Sinn des Wortes unmittelbar augenscheinlich gegeben, die Laute dringen unvermittelt an unser Ohr, und wir betasten und begreifen die Gegenstände in unserer Reichweite unmittelbar als Gegenstände. Wir empfinden zwischen der sinnlich erfahrbaren Welt und uns nichts Vermittelndes, wir müssen nichts von ihr indirekt erschließen und erahnen. Die unmittelbare Gegebenheit der sinnlichen Welt ist sprichwörtlich, und sie wird von den meisten Philosophen und Wahrnehmungstheoretikern in charakteristischem ontologischen Gegensatz zur Welt der Meinungen, Hypothesen und Theorien über sinnlich Erfahrenes gesehen. (im Original Seite 229)
... All dies unterstützt stark den erkenntnistheoretischen Standpunkt des kritischen Realismus: unsere Sinnesorgane bilden die Welt ab, so gut sie eben können, d.h. im Rahmen des physikalisch und physiologisch Möglichen und evolutiv Bewährten. Sie sind die Tore des Gehirns zur Welt; durch sie strömt die jeweils spezifisch benötigte Information ins Gehirn ein und wird von diesem zur adäquaten Wahrnehmung, z.T. unter Zuhilfenahme angeborener und erworbener Gestaltungsmuster, zusammengefügt. ..." (231)
"Eine ganz andere Perspektive als die soeben aufgezeigte tut sich auf, wenn man das Wahrnehmungsproblem nicht vom Standpunkt der Sinnesorgane, sondern vom Standpunkt des Gehirns sieht. Die Sinnesorgane ... werden zwar ... von Umweltreizen aktiviert; ... die neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und zum Gehirn weitergeleitet wird, ist als solche unspezifisch. Man kann einer Nervenimpulssalve ... nicht ansehen, ob sie z.B. durch visuelle, akustische, geruchliche Erregung hervorgebracht wurde ... Die spezifische Modalität der Sinnesorgane, auf der unsere Sinneswelt zu beruhen scheint, ist 'hinter' den Sinnesorganen offenbar verschwunden. Die Sinnesorgane übersetzen die ungeheure Vielfalt der Welt in die 'Einheitssprache' der bioelektrischen Ereignisse (Nervenpotentiale), denn nur diese Sprache kann das Gehirn verstehen. ... Man kann leicht einsehen, daß diese Übersetzung in die neuronale 'Einheitssprache' etwas für die Funktion von Nervensystemen Unabdingbares ist, denn wie könnten sonst im Dienste der sensorischen Verhaltenssteuerung Auge und Muskeln, aber auch Auge und Ohr, Gedächtnis und Geruch miteinander kommunizieren..." (232)
Bei diesem Übersetzungsprozess aber geht das "Original" verloren. Die "Sprache" des Nervensystems selbst ist bedeutungsneutral (oder wie Heinz von Foerster drastisch zu sagen pflegt: "'klick', 'klick' ist das Vokabular der Nervensprache"). Weil aber im Gehirn der signalverarbeitende und der bedeutungserzeugende Teil eins sind, können die Signale nur das bedeuten, was entsprechende Gehirnteile ihnen an Bedeutung zuweisen: "Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung" (14).
"Bei der Bedeutungszuweisung operiert das Gehirn auf der Grundlage früherer interner Erfahrung und stammesgeschichtlicher Festlegungen: erst dann wird ein Wahrnehmungsinhalt bewußt. Das heißt aber, bewußt wird nur das, was bereits gestaltet und geprägt ist. Aufgrund dieser Arbeitsweise ist das Gehirn gar nicht in der Lage, Wirklichkeit als solche abzubilden oder zu repräsentieren: Es gibt kein Urbild. Das Gehirn '... kann nur (für sich und in sich selbst) präsentieren, es kann nur konstruieren'. - Da das Gehirn keinen direkten Zugang zur Welt hat, ist es als Teil des Nervensystems kognitiv und semantisch abgeschlossen. Es ist ... selbstreferentiell und selbstexplikativ.
... Alle Bewertungs- und Deutungskriterien muß das Gehirn aus sich selbst entwickeln. Dabei erweist sich in evolutionstheoretischer Sicht die Unspezifität der Nervenimpulse als Vorteil; denn '... ihre freie Deutbarkeit und Übersetzbarkeit macht überhaupt erst eine Kommunikation der Sinnesempfindungen und eine Überführung von Wahrnehmung in Aktion möglich'. Ein umweltoffenes Gehirn dagegen wäre als Reflexsystem fremdgesteuert, heterogen und nie in der Lage, komplexe Umwelten zu bewältigen. Bei dieser Bewältigung, die einen hohen neuronalen Aufwand voraussetzt, spielen frühere sensomotorische Erfahrungen und damit verknüpfte Bewertungsprozesse eine entscheidende Rolle. Darum ist, wie Roth pointiert feststellt, unser Gedächtnis 'unser wichtigstes Sinnesorgan'." (15/16)
"Erkenntnistheoretisch bedeutsam ist die von Roth u.a. getroffene Unterscheidung zwischen realem Gehirn und kognitiver Welt: 'Der reale Organismus besitzt ein Gehirn, das eine kognitive Welt erzeugt, eine Wirklichkeit, die aus Welt, Körper und Subjekt besteht, und zwar in der Weise, daß dieses Subjekt sich diese Welt und diesen Körper zuordnet. Dieses kognitive Subjekt ist natürlich nicht der Schöpfer der kognitiven Welt, dieser Schöpfer ist das reale Gehirn, es ist vielmehr eine Art 'Objekt' der Wahrnehmung, es erfährt und erleidet Wahrnehmung. Das reale Gehirn ist in der kognitiven Welt ebensowenig gegeben, wie die Realität selbst und der reale Organismus'.
Schon Gestaltpsychologen ... haben darauf hingewiesen, daß die kognitive Welt in sich abgeschlossen ist ... Nur innerhalb der kognitiven Welt gibt es Innen und Außen, Raum und Zeit. Die kognitive Welt ist die räumliche und zeitliche Wirklichkeit des kognitiven Subjekts. Kognitive Raum-Zeit-Begriffe sind nicht auf die reale Welt anwendbar, die eine notwendige kognitive Idee, aber keine erfahrbare Wirklichkeit ist. Das reale Gehirn muß seine Existenz und seine Eigenschaften aufgrund innerer Erregungszustände erschließen: 'Wir können Wahrnehmungen nicht selbst wahrnehmen, wir sind Wahrnehmungen. Wahrnehmung ist die Selbstbeschreibung des Gehirns'." (15, 16)
"Wir können ... folgern, daß der Ort im Gehirn, an dem eine neuronale Erregung eintrifft und weiterverarbeitet wird, die Modalität der Sinnesempfindung (Sehen, Hören etc.), aber auch ihre Qualität (bestimmte Farbe, bestimmter Klang und Geschmack) bestimmt und daß die Impulsfrequenz meist nur die Intensität der Empfindung bestimmt." (233)
" ... alles, was an neuronalen Impulsen in den Hinterhauptskortex gelangt, ist ein Seheindruck, und was in bestimmten Regionen des Hinterhauptskortex verarbeitet wird, ist eine bestimmte Farbe, völlig unabhängig von der tatsächlichen Abkunft des Signals. Das Gehirn arbeitet also nach einem rigorosen topologischen Prinzip..." (234)
"All dies führt zu der merkwürdigen Feststellung, daß das Gehirn, anstatt weltoffen zu sein, ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ist, das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft und Bedeutung es nichts absolut Verläßliches weiß. Die für den gesunden Menschenverstand ungerechtfertigte Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane erscheint damit auf die Spitze getrieben, denn die von uns erlebte sinnliche Welt ist demnach nur ein Konstrukt des Gehirns, wenn auch keineswegs ein willkürliches Konstrukt." (235)
"Die Gesamtheit unserer kognitiven Welt läßt sich in drei große Bereiche teilen: einen ersten Bereich, dem alle Dinge und Prozesse der sogenannten Umwelt angehören, die wir also als 'Dingwelt' erfahren; einen zweiten Bereich, zu dem unser Körper und alle ihm verbundenen Erfahrungen gehören, die wir also 'Körperwelt' nennen können; und einen dritten Bereich, in dem alle unsere unkörperlichen Zustände und Erlebnisse existieren, also Gefühle, Vorstellungen, Gedanken." (236)
"Das Gehirn erschafft also eine kognitive Umwelt und einen kognitiven Körper sozusagen per exclusionem (Ausschluß): alles, was nicht Körper ist, ist Umwelt, und umgekehrt; oder: alles, was nicht 'drinnen' ist, ist 'draußen'. Diese Grenze zwischen kognitivem Körper und kognitiver Umwelt innerhalb der kognitiven Gesamtwelt ist eine unmittelbare, denn die Vermittlung zwischen Welt und Gehirn durch die Sinnesorgane, die in der materiellen, 'realen' Welt des Organismus existiert, existiert natürlich innerhalb der kognitiven Welt, der 'Wirklichkeit' unseres Gehirns, nicht. Beide Bereiche werden vom Gehirn sozusagen direkt nebeneinandergestellt. Deshalb erleben wir die Dinge und Prozesse unserer Umwelt in der Tat als unmittelbar, denn die Bereiche der Dingwelt und der Körperwelt haben als vom Gehirn konstituierte denselben ontologischen (nämlich kognitiven) Status. So scheint es, als blickten wir durch unsere Augen direkt auf die Welt, insbesondere da wir ja unsere Augenhöhlen schattenhaft mitsehen. Wir haben nicht das Erlebnis, daß es zwischen uns und der Welt irgendeine vermittelnde Instanz gibt.
Es ist deshalb auch sehr irreführend, wenn von vielen Wahrnehmungstheoretikern gesagt wird, die von uns sinnlich erfahrene Welt sei in Wirklichkeit in unserem Kopf bzw. Gehirn. Diese Feststellung führt dann auch zu Spekulationen darüber, wie denn unsere Wahrnehmungen, die doch 'da drinnen' entstehen, 'nach außen' kommen. Diese häufig gestellte Frage verkennt, daß das 'draußen', das wir wahrnehmen, ein kognitives 'draußen' ist, welches nicht mit dem 'draußen' der normalen Welt, in der unser Organismus lebt, verwechselt werden darf. Das Gehirn erzeugt bei der Konstruktion der kognitiven Welt, wie oben dargestellt, zugleich ein 'drinnen' und 'draußen', die aufeinander bezogen sind. Abstrakt gesprochen werden von vielen Theoretikern zwei ontologisch völlig unterschiedliche Welten, die (im physikalisch weitesten Sinne) materielle, reale Welt des Organismus und die Kognitive, 'wirkliche' Welt, miteinander in Beziehung gesetzt, die (wahrscheinlich) kausal, aber nicht räumlich verknüpft sind. Das Gehirn, das mir zugänglich ist, ... existiert ja innerhalb meines kognitiven Raumes und ist natürlich nicht mit dem realen Gehirn identisch, das den kognitiven Raum erst konstituiert. Was ich, auf dem Operationstisch liegend, auf dem Monitor oder in einem Spiegel dargestellt sehe, halte ich natürlich in diesem Augenblick für das offengelegte Gehirn, das 'das alles', was ich erlebe, erzeugt. Wäre dies aber so, dann hätte ich eine paradoxe Situation vor mir: ich könnte zugleich in mir und außer mir sein. Oder anders ausgedrückt: mein Gehirn könnte sich selbst von außen ansehen dadurch, daß es sich eine Welt erzeugt, in der es selbst identisch enthalten ist. Dies aber führte sofort zur unendlichen Spiegelung des Gehirns in sich selbst. Die Auflösung dieser Paradoxien besteht aber darin, daß das Gehirn, welches wahrgenommen wird, ein kognitives Konstrukt des wahrnehmenden , d. h. konstruierenden Gehirns, ist und als solches selbst nicht mehr wahrnehmen kann.
Die genauere Bestimmung der 'räumlichen' Beziehung zwischen realer und kognitiver, 'wirklicher' Welt ist deshalb so schwierig, weil der Begriff des Raumes natürlich selbst ein kognitiver ist. ... Die Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie wird nicht in der realen Welt, sondern in der - uns allein zugänglichen - sinnlich - kognitiven Welt nachgewiesen, z.B. durch astronomische Beobachtungen, und das Eintreffen bestimmter Annahmen beweist nur die Konsistenz der theoretischen Annahmen mit unseren Beobachtungen.
Wir können deshalb weder den alltäglichen noch den physikalischen Raumbegriff auf die Beziehungen zwischen kognitiver und realer Welt anwenden, da beide Welten einen grundsätzlich verschiedenen ontologischen Status haben. Es hat deshalb keinen Sinn zu sagen, daß die kognitive Welt in der realen Welt existiert, denn das würde ja eine beide Welten umfassende Geometrie, eine Geometrie des 'Hyperraumes' voraussetzen." (238/239)
"Der Gehirn - interne Gewinn von Kenntnissen über die Umwelt wird durch ... Konsistenzprüfung ... (hergestellt). Wichtig ist dabei zu berücksichtigen, daß das reale Gehirn individuelle Wirklichkeit nur unter spezifischen sozialen Bedingungen entwickeln kann: 'In diesem Sinne ist die von unserem Gehirn konstituierte Wirklichkeit eine soziale Wirklichkeit und keine Monade im Leibnizschen Sinne, obwohl sie in der Tat kein Fenster nach draußen hat.“ (16f)
Der letzte Halbsatz bedeutet offensichtlich, dass das reale Gehirn ausschließlich Veränderung an (in) sich selbst feststellt. Um sich diese Veränderung zu erklären, postuliert es eine Außenwelt (Raum, Zeit und Materie) im Gegensatz zu sich selbst als Innenwelt (Körper samt Gehirn). In diese konstruierte plausible Außenwelt positioniert es die vermutete Herkunft einer wirkenden Kraft, die die Veränderung hervorgerufen haben mag. Demnach sind die Fenster keine wahren Tore zur Umwelt, sondern bloß plausible, symbolische Darstellung von in Wirklichkeit internen Veränderungen.
Ich deute die Zitate dieses Kapitels so, dass es für ein reales Gehirn zwar keine Außenwelt im Sinne von 'räumlich außen' gibt, da Raum ein Konstrukt ist; wohl aber ein hierarchisch geordnetes strukturelles 'Außen', das Störungen im ansonsten geschlossenen kognitiven System hervorrufen kann. Die sogenannte 'objektive Außenwelt' wäre dann zwar weiterhin ein vollständiges Eigenprodukt des realen Gehirns; sie wäre es aber ebenso vollständig nach externen Maßgaben. Eine rein objektive Welt wäre dann eine maximal fremdbestimmte Welt, rekonstruiert ausschließlich aus den gegenseitigen Störungen aller Subjekte. Ich beobachte, indem ich mich körperlich in eine materielle Außenwelt stelle. Ich beobachte die Welt und bin leiblich ein Teil von ihr.
Roth stellt und beantwortet nun die Frage nach der Unmittelbarkeit der Sinneserfahrung und nach der Verlässlichkeit der intern generierten kognitiven Welt.
"Die erste der oben gestellten Fragen läßt sich also dahingehend beantworten, daß die Unmittelbarkeit der Sinneserfahrung, die von vielen Philosophen als Basis unserer Welterkenntnis und von vielen Hirnphysiologen als völliges Rätsel angesehen wird, selbst ein Konstrukt des Gehirns ist, indem es die (kognitive) sinnliche Welt unmittelbar von der (kognitiven) Körperwelt und der 'mentalen' Welt abgrenzt. Diese Bereiche stoßen - bildlich gesprochen - direkt aneinander. Die Ansicht, das Gehirn sei ein gegenüber den Umweltereignissen offenes System, beruht darauf, daß die unmittelbare sinnliche Welterfahrung nicht als ein solches Konstrukt begriffen wird.
Nun zur zweiten Frage, nämlich nach der Verläßlichkeit der Funktion dieser intern generierten kognitiven Welt. Das Gehirn läßt sich als ein funktional und semantisch selbstreferentielles oder selbst-explikatives System auffassen. Unter funktionaler Selbstreferentialität eines Systems verstehe ich die Eigenschaft des Gehirns, mit den eigenen Zuständen rekursiv oder zirkulär zu interagieren, so daß jeder Zustand aus der Interaktion früherer Zustände resultiert. Selbstreferentielle Systeme sind in ihren Zustandssequenzen selbstbestimmt oder autonom. Ihre Zustandssequenzen sind nicht von außen steuerbar (wg. fehlender Umweltoffenheit. Heyer). Wichtig ist, daß Selbstreferentialität nicht Isoliertheit bedeutet: selbstreferentielle Systeme sind i. a. R. durchaus von außen beeinflussbar oder modulierbar. Die Wirkungen dieses Einflusses, seine Quantität und Qualität, sind aber vollständig durch das selbstreferentielle System bestimmt. D. h. ob ein externes Ereignis überhaupt auf das System einwirken kann und, wenn ja, in welcher Weise und Stärke, legt das System fest.“ (240/241)
Dann stellt Roth die Frage: "Wie kann aber ... ein derart selbstreferentielles und selbst-explikatives System überlebensfördernde Kenntnis über die Umwelt erlangen, in der sein Organismus und es selbst überleben müssen?" (241)
Roth fand drei Möglichkeiten:
"Warum aber, so müssen wir fragen, ist das Gehirn überhaupt ein selbstreferentielles System. Warum verschafft es sich nicht direkten Zugang zur Welt? Dann wären alle Probleme der Überprüfbarkeit gelöst." (245) Roths Antwort: "Bewußte Wahrnehmung, geplantes Handeln und erfolgreiche Bewältigung sehr komplexer Umwelten (auch sozialer Umwelten) sind nur durch ein semantisch selbstreferentielles und selbst-explikatives System möglich, wie es das menschliche Gehirn ist.
Betrachtet man die Evolution des Wirbeltiergehirns von den sogenannten 'primitiven' Wirbeltieren bis hin zum Menschen, so läßt sich feststellen, daß die Größe des Gehirns ziemlich streng mit der Fähigkeit zum Lernen und zu komplexem Handeln und damit zur Bewältigung einer immer komplexeren Umwelt korreliert ist. Ich möchte hier die Frage offenlassen, ob die Größenzunahme des Gehirns innerhalb der menschlichen Evolution das Produkt des Selektionsdrucks einer zunehmend komplexeren Umwelt war, oder ob, wofür es inzwischen viele Anhaltspunkte gibt, das Gehirn aus internen Wachstums- und Differenzierungsgründen größer und komplizierter wurde und der Mensch erst sekundär dadurch in die Lage versetzt wurde, immer komplexere Umwelten zu bewältigen." (246)
Roth berichtet, dass die quantitative Datenflut, die ein primitives Tier von den Sinnesorganen erhält, nicht wesentlich anders ist, als beim Menschen. Aber der Mensch verfüge über wesentlich mehr Möglichkeiten, diese Datenflut auszuwerten. Dabei benutze er die Gehirnkapazitäten nicht, um mehr Daten verarbeiten zu können, sondern um aus möglichst wenigen Daten möglichst viel Qualität herauszuholen. Dies aber kann nur gelingen, wenn sich das Gehirn eine interne kognitive Welt herstelle und Sinnesdaten mit Erinnerungen mische. Unsere sichtbare Welt bestehe demnach aus Erinnerungen, die von wenigen Sinnesinformationen aktualisiert würden. Diese so intern generierte Welt ermögliche schnelles Handeln. Wäre das Gehirn kognitiv offen, wäre es zu langsam, um das Überleben zu sichern.
In meinem ersten längeren Zitat aus Roths Arbeit möchte ich den Begriff 'stammesgeschichtlicher' hervorheben, weil ich schon hier auf einen möglichen Widerspruch gestoßen bin. Einerseits zeigt Roth sehr plausibel, dass 'Zeit' für das 'reale Gehirn' eine 'notwendige kognitive Idee und keine erfahrbare Wirklichkeit' sei; andererseits spricht er von Stammesgeschichte. Er verwendet einen zeitlichen Begriff zur Beschreibung eines Gehirns, das der Zeit nicht unterworfen sein kann, weil es 'Zeit' ja erst konstituiert! Ein Gehirn, das, wie Roth schreibt, 'nur konstruieren kann', also ein reales Gehirn, das 'Zeit' konstruiert, kann sich nicht stammesgeschichtlich entwickelt haben! - Es sei denn, und das ist meine Theorie - es gibt zwei Zeiten: eine Real-Zeit, in welcher das reale Gehirn das kognitive Hirn samt linearer Zeit konstruiert, wobei die Realzeit nicht die Linearität der kognitiven Zeit aufweisen muß, sondern zB rückgekoppelt - zyklisch - sein könnte. Genauer:
1. Es gibt interne Strukturumwandlungen im kognitiven System, bei denen Wirkungen in Rückkopplungsschleifen auf ihre Ursachen zurückwirken (zyklische Kausalität wie bei autopoietischen Systemen). Damit werden vergangene Zustände (Strukturen) in die Gegenwart einbezogen, und es entsteht ein ausschließlich in der Gegenwart existierendes sich ständig umwandelndes System, das in sich und für sich zeitlos, also ewig, ist.
Man bedenke auch, dass die physikalische Zeit nach einstein an das Licht gekoppelt ist: Materielle Kreisläufe (zyklische Prozesse) sind demnach auch zeitliche Kreise - im Gegensatz zur linearen Zeit oder dem Zeitpfeil, der methodisch aus dem 2. Thermodynamischen Gesetz abgeleitet wird.
2. Nur einem außenstehenden Betrachter (einem zweiten System), der aufgrund einer Methode in dem oben genannten 'Zeit - Gebrodel' eine Folge von unterschiedlichen Strukturen beobachten kann, erscheinen diese innigen Umwandlungen des betrachteten ewigen Systems einem Zeitpfeil unterworfen und damit 'stammesgeschichtlich'. Dabei erweist sich die physikalische Zeit - Zeitpfeil - als Resultat der Methode der Invariantenbildung. Nur Roths 'kognitives Gehirn' ist scheinbar der physikalischen Zeit unterworfen, aber genau dieses konstruiert nicht, denn es ist bereits Konstrukt!
Dann möchte ich das Begriffspaar 'wahrer Herkunft' hervorheben. Hier schreibt Roth ganz richtig, dass das reale Gehirn als abgeschlossenes System die wahre Herkunft eines Signals nicht kennen kann und sie deshalb (re-)konstruieren muss. Diese Aussage steht im Widerspruch zu später gemachten Aussagen, bei denen er wie selbstverständlich von einem 'materiellen realen Gehirn' (siehe Zitat (275)) das sich evolutionär entwickelt habe usw., schreibt. Roth beschreibt die reale Welt, als wäre sie deckungsgleich mit der kognitiven Welt. Und in Roths so beschriebener realen Welt ist die wahre Herkunft eines Signals deutlich sichtbar!
Die Zitate (233) und (234) sind mit Vorsicht zu genießen, da sie im Widerspruch zum Zitat (15/16): "Dieses kognitive Subjekt ist natürlich nicht der Schöpfer der kognitiven Welt ...") stehen. Roth schreibt von einem 'Ort im Gehirn', von einem 'Hinterhauptskortex', von neuronalen Signalen'. All diese Beschreibungen sind ausschließlich auf das kognitive Gehirn bezogen. Laut Zitat (15/16) - siehe oben - wissen wir jedoch, dass das kognitive Hirn nicht selbst denkt, keine Signale verarbeitet, sondern Produkt ebendieser Tätigkeiten - des realen Gehirns - ist.
Was Roth im Zitat (238) den 'vielen Wahrnehmungstheoretikern' vorwirft, werfe ich auch ihm vor: Auch Roth hat auf unzulässige Weise zwei 'ontologisch völlig unterschiedliche Welten' miteinander vermengt - wie ich noch verdeutlichen werde. Roth beschreibt das reale Gehirn identisch mit der Beschreibung des kognitiven Gehirns.
Von welchem Gehirn spricht Roth im Zitat (246)? Er spricht von evolutiver Größenzunahme des Gehirns. Es kann also nur das kognitive Hirn gemeint sein; es ist zu befürchten, Roth meint das reale Gehirn. Es ergibt sich der starke Verdacht, Roth glaubt an die Existenz einer realen Welt, die der kognitiven Welt, was Raum, Zeit, Energie, Materie, Bewegung usw. betrifft, identisch ist. In dieser realen Welt sei der Mensch mit seinem realen materiellen Gehirn evolutiv entstanden. In diesem Gehirn gebe es nun ein materielles neuronales Netz, welches Träger eines kognitiven Gehirns sei, in welchem nun eine kognitive Welt samt kognitivem Hirn konstruiert wird. Roth hat die Welt des 'naiven Realismus' in genialer Weise mit konstruktivistischen Mitteln und Methoden zerpflückt, hat sie aber durch ein Hintertürchen wieder eingeführt, wodurch er sich nachträglich aller neuen Einsichten wieder beraubt hat. Der einzige Unterschied zwischen dem 'naiven Realismus' und Roths 'Konstruktivismus' ist der, dass Roths Theorie konstruktiv(istisch)e Kritik ins Leere laufen lässt!
In 'Bild der Wissenschaft 10/98, Seite 73, steht in einem Interview von Gerhard Roth 10: "Ich bin überzeugt von der Existenz einer Welt außerhalb unseres Bewußtseins, einer Welt, in der Tiere und Menschen leben, die ein Gehirn haben. Die objektive Welt erregt die Sinnesorgane dieser Tiere und Menschen. Ihre Gehirne machen daraus etwas, und ich bin ein Konstrukt dieser Gehirne, einschließlich meines eigenen." Dieses Zitat belegt die Richtigkeit der Behauptung, dass Roth wieder in 'vorkonstruktivistische' Denkmuster zurückgefallen ist und sich um die Früchte dieser Philosophie gebracht hat.
Mit diesen Äußerungen hat Roth sämtliche Errungenschaften des R.K. wieder zunichte gemacht und ist an seinen Ausgangspunkt, den 'kritischen Realismus' zurückgekehrt. Er hätte sich seinen philosophischen Ausflug sparen können. Was nützt es, den 'kritischen Realismus' kunstvoll auseinanderzupflücken und eine bessere Philosophie, den Radikalen Konstruktivismus, zu entwickeln, um den R.K. dann auf die Grundlage ebendieses als naiv entlarvten 'kritischen Realismusses' zu stellen? In diesem Fall wäre der R.K. keine Widerlegung des 'kritischen Realismus', sondern seine Weiterentwicklung, was er jedoch aus logischen Gründen nicht sein kann.
Der radikale Konstruktivismus ist ein hervorragendes Konzept, mit dessen Hilfe wir uns und die Welt besser verstehen und verändern lernen können. Besonders wertvoll daran ist, dass er die Welt nicht nur im Nachhinein 'erklärt', was den Fortschritt hemmen würde, sondern uns auch Mittel in die Hände legt, unsere Zukunft zu kreieren. Die Zukunft kommt nicht einfach; sie wird gemacht! Wir können unsere Mythen verwirklichen - materialisieren -, wenn wir (unsere Bewusstseine) es schaffen, in diejenigen Bereiche unseres eigenen Geistes vorzudringen, in denen beispielsweise die so genannten 'Naturgesetze' konstituiert werden. Dann könnten wir zu Kreatoren unser selbst und unserer Welt werden. Roth ist, vielleicht zu Recht, vor der Verkündung dieser Konsequenzen zurückgeschreckt und hat womöglich deshalb den ihm von mir vorgeworfenen Fehler gemacht - um möglichst viele Studenten seiner Werke nach einem kurzen Ausflug in die Fremde wieder in den sicheren Hafen der so genannten (!) empirischen Naturwissenschaft zurückzuführen, damit sie nicht aus der sozialen 'symbolischen Sinnwelt' beziehungsweise der konsensualen 'kognitiven Welt' herausfallen.
Geschichte
Konstruktivismus als Folge eines Perspektivwechsels
Das Gehirn sei hier unglaublich flexibel; Widersprüche werden ausgeblendet oder geglättet. An Experimenten konnte gezeigt werden, dass das Gehirn beispielsweise über die räumliche Orientierung der visuellen Welt frei verfügen kann, um eine intern konsistente Wahrnehmung zu erlangen. (242-244)Kritik an Gerhard Roth
Schluss
Weblinks
Siehe auch