Opferung Isaaks
Nach Aussage des Alten Testaments (Genesis 22,1-19) stellte Gott Abraham auf die Probe, indem er von ihm verlangte, seinen Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen. Als Isaak schon auf dem Holzstapel lag und geschlachtet werden sollte, wurde die Prozedur durch einen Engel des Herrn abgebrochen. Genau genommen fand die Opferung Isaaks also gar nicht statt; deshalb drückt die jüdische Bezeichnung unseres Textes "Bindung Isaaks" (= "akedah") den Inhalt dieser Erzählung genauer aus. Um den für moderne Menschen nicht akzeptierbaren Inhalt dieser Erzählung doch verstehen zu können, bedarf es einer genaueren Analyse. Gemäß G. Steins (Die "Bindung Isaaks" im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, Herders Biblische Studien Freiburg 1999 ISBN 3-451-26916-3) scheint mir der Versuch einer kanonisch angelegten intertextuellen Analyse Erfolg versprechend zu sein. Der Durchgang einer solchen Lektüre des näheren Kontextes innerhalb der Abraham-Sara Erzählung (Gen 12,1-9 und Gen 21,1-21) und des erweiterten Pentateuch Kontextes (Siaiperikope: Ex 19-24; Dtn 8,2-6; Lev 1-9.16/Ex 29,38-46; Dtn 12; Ex 3-4) lässt erkennen, dass unsere Geschichte hinsichtlich Inhalt und Thematik vieles mit den oben erwähnten, zentralen Bibeltexten gemeinsam hat. Dadurch wird sie bedeutungs-reicher und verstehbarer und die Gefahren bestimmter Engführungen in der Interpretation des Textes lassen sich vermeiden . Dass zum Teil wortwörtliche Übereinstimmungen festgestellt werden können, legt die begründete Vermutung nahe, diesen "exzeptionellen" Text (Gen 22) als einen sehr bewusst thematisierten und entworfenen zu begreifen. Daraus kann man weiters folgern: wir haben es hier nicht mit einem "Erzähl-Produkt" aus der Zeit der Erzeltern und früher zu tun, sondern mit einer sehr jungen Textproduktion, die den Abschluss des Pentateuch in dessen wichtigen Themen schon voraussetzt, weil unser Text ja beständig darauf Bezug nimmt. Die kanonisch-intertextuelle Lektüre ist ein Versuch. Hypothetische Entwürfe – und um solche handelt es sich in der Exegese immer – haben dann ihre Berechtigung, wenn sie „fruchtbar“ sind, d.h. wenn es diesen gelingt, einen Text mittels anderer gleicher Texte verstehbarer zu machen und Inhalte, deren Sinn im Ganzen bisher unverständlich geblieben war, einfach und sinnvoll zu erklären. Die kanonisch-intertextuellen Lektüre ist ein solcher Versuch und - wie mir scheint - ein fruchtbarer Versuch zu sein. Denn einerseits greift er auf Bisheriges zurück, um andererseits neue Aspekte zu eröffnen. Immer schon sind in der Exegese Übereinstimmungen von Gen 22 mit Gen 12 und Gen 21 beachtet worden . Weitere Bezugspunkte ergeben sich aus der Opferthema-tik. „Die Akzentuierung der Opferthematik mit ihren verschiedenen Aspekten (heiliger Ort, Details des Opfervorgangs, Präsenz Gottes) in Gen 22 legt eine Kontextualisierung mit den pentateuchischen Kerntexten nahe. Daher sollen die intertextuellen Beziehung zwischen Gen 22 und dem ersten Hauptteil der Si-naiperikope in Ex 19-24 analysiert werden. Das für Gen 22 wichtige Thema der Probe spielt nicht nur in Ex 19f ein zentrale Rolle, sondern auch in Dtn. 8“ (Georg Steins, Die Bindung Isaaks, S.134). In einem weiteren Schritt können auch Zusammenhänge mit den kultischen Weisungen in Ex, Lev und Dtn erhoben werden.Die dichte Vernetzung der Bezüge innerhalb dieser Erzählungen kann nicht das Ergebnis eines längeren Überlieferungsprozesses sein, sondern muss von Anfang an vom „Autor“ intendiert gewesen sein. „Diese These impliziert, dass Gen 22 zu den jüngsten Texten im Pentateuch gehört und gezielt als Aufgipfelung der Abraham-Sara-Erzählungen, als &sbquotheologische Summe’, in den Kontext von Gen 12-25 eingetragen worden ist. Darüber hinaus verbindet er zentrale Texte der nachfolgenden Teile, vor allem der Sinaiperikope, mit der Gestalt Abra-ham“ (Steins, S. 217). Die neuere Forschung hat vielfach auf die Vielschichtigkeit von Gen 22 aufmerksam gemacht, aber keinen Ansatzpunkt, von dem her sich alles einheitlich erklären lassen konnte, gefunden. Aus dem Vorhergehenden aber lässt sich klar festhalten: „Gen 22,1-19 verbindet die zwei wichtigsten Konzeptionen der Tora für das Gottesverhältnis Israels und bezieht diese auf Abraham: zum einen den deuteronomistischen Grundgedanken der Gottesbegegnung im Gesetz, zum anderen das priesterliche Modell der Gotteserfahrung im Kult. Beide Konzeptionen sind bereits in der Endgestalt der Sinai - Perikope zusammengeführt, Gen 22 setzt aber die Tendenz zur Bündelung der zentralen theologischen Konzeptionen fort und vollbringt eine erstaunliche Integrationsleistung... Die Tendenz, wichtige theologische Themen vom Sinai &sbquonach vorne’ in die Erzelterngeschichte hineinzuverlagern, die z. B. in der priesterlichen Pentateuchschicht beobachtet werden kann, findet hier ihre Fortsetzung: Abraham wird zu dem Modell Israels, das für Israel Wesentliche ist bereits an ihm ablesbar. Diese Tendenz prägt die späten Bearbeitungen der Abraham-Sara-Erzählungen. Das Besonde-re in Gen 22 besteht darin, dass es sich nicht wie etwa in Gen 18,19 und 26,3-5 um punktuelle Erweiterungen bereits vorhandener Erzählungen handelt, sondern eine eigene Erzählung für einen vorliegenden Zusammenhang in enger Anlehnung an diesen und zugleich unter Berück-sichtigung des ganzen Pentateuch geschaffen wird. Gen 22,1-19 ist in diesem Sinne eine &sbquoMakroglosse’, die jedoch nicht nur punktuell kommentiert, sondern eine grossräumigen Ho-rizont besitzt. In der Ausbildung von Gen 22 kommen also zwei Bewegungen zusammen, die Tendenz zur Integration zentraler Themen, die selbst Motor der Pentateuchentstehung / ist, und die Tendenz der Verlagerung wichtiger Inhalte vom Sinai als dem kompositionellen Zentrum an die Spitze, d. h. den Beginn der Erzählung von Israel in den Erzelterngeschichten. Für das Verständnis von Gen 22 ist der Jerusalembezug ebenso konstitutiv wie der Zusammenhang mit dem Sinai, wird aber auf einer anderen Ebene bedeutsam. Fügen sich vom Sinai als dem &sbquotheologischen Ort’ her die verschiedenen Themen zusammen, so findet diese Synthese in Jerusalem ihren &sbquogeographischen Ort’: Mit dem Heiligtum steht Jerusalem für die konkrete Möglichkeit der Gottesbegegnung in Israel. Gen 22 formuliert im Kontext der Anfänge der Gründungsgeschichte des um Jerusalem zentrierten Israel die korrespondierende Theologie; Israels Opfer, das durch das Brandopfer repräsentiert wird, ist das von JHWH gnädig ermöglichte Selbstopfer Israels“ (Steins, S. 218f). Nach all dem Gesagten spricht vieles dafür, dass Gen 22 eine „späte Erweiterung eines schon sehr weit entwickelten Pentateuch“ (Steins, S. 223) ist. Die Frage, welcher Redaktionsschicht unser Text zugerechnet werden sollte, lässt sich aufgrund der bisherigen Forschungsergebnisse vorläufig nicht entscheiden.
Im Auslegungsprozess lässt sich mehrmals die Parallelität von Abraham mit Israel feststellen können. Das ermöglicht jetzt auch eine genauere Interpretation des ersten Verses in Gen 22. Abweichend von allen nicht-priesterschriftlichen Abrahamerzählungen be-innt Gen 22,1-9 mit einer Überschrift: „Gott prüft Abraham“. Dadurch macht uns der „Autor“ aufmerksam: In dieser Erzählung geht es nicht um ein Ereignis aus der Geschichte des Erzvaters Abraham, sondern um ein theologisches Thema, welches heisst: „Gott prüft Abraham = Gott prüft Israel“. Ebenso wie in Gen 18,17-33 – wo es um die theologische Frage nach der Gerechtigkeit Jahwes gegangen ist – wird uns ein theologisches Problem in Form einer Erzählung vorgestellt. Israel reflektiert auf seine konkrete geschichtliche Situation, indem es sich diese Geschichte von der Erprobung Abrahams erzählt. Unser Text ist also jüngeren Datums. Die Land- und Nachkommenschaftsverheissungen in der Erzelternerzählungen versuchen eine theologische Antwort auf die geschichtliche Erfahrung, dass diese Verheissungen gerade durch das babylonische Exil für das Volk Israel radikal in Frage gestellt worden sind, zu geben. Das geschichtliche Fundament dieser Erzählung ist nicht so sehr in der Zeit der Erzeltern Abraham und Sara zu suchen, sondern in der historischen Wirklichkeit ihrer Adressaten, d. h. also nach 586 v. Chr. angesichts einer scheinbar zurückgenommenen Heilsgeschichte Jahwes mit seinem Volk Israel. Diese Erfahrung wird in unserer Geschichte Gen 22 folgendermaßen erzählt: JHWH befielt Abraham, seinen Sohn zu opfern. Die im einzigen Sohn Isaak wirklich gewordene Verheissung der Nachkommenschaft wird scheinbar vom JHWH selbst zurückgenommen. Das durch das babylonische Exil im „Väterglauben“ irre gewordene Israel projiziert seine geschichtliche Situation auf die Gestalt des Erzvaters Abraham. Dem Befehl an Abraham, in seinem Sohn Isaak die Verheissung seiner eigenen Zukunft zu opfern, entspricht die seine Existenz als von Jahwe erwähltes Volk „vernichtende“ Erfahrung des Verlustes des Tempels in Jerusalem und des Landes. Die von JHWH gemachte Heilszusage ist von diesem scheinbar selbst zurückgenommen worden. Denn: Verlust des Zentralheiligtums auf dem Zion bedeutet die Erfahrung des Verlustes der sichtbaren Gegenwart JHWHs unter seinem Volk, und die Vertreibung Israels ins Exil wird als Verlust der von JHWH gegebenen Verheissung des Landes verstanden. Diese Erfahrungen werden von Israel als eine Erprobung durch JHWH gedeutet. Modellhaft am Handeln seines Ahnen Abraham entworfen, erkennt Israel, wie es in seiner Gegenwart und für seine unmittelbare Zukunft Hoffnungs- und Handlungspotenziale gewinnen kann, nämlich, wenn es wie Abraham in der Erzählung wieder auf JHWHs Stimme hört und JHWH fürchtet, d.h. auf seinen Wegen geht und die Torah treu befolgt, dann wird es Gottes Gegenwart im wieder zu errichtenden Tempel von neuem gewahr werden, wenn es in den Brandopfern sich JHWH als Opfer darbringen wird, und dann und nur dann wird es auch eine Zukunft haben in dem Land, das ihm von JHWH zugesprochen worden ist.
Weblinks