Nationalsozialistische Bewegung Chiles
Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus fanden nicht nur auf dem europäischen Kontinent zahlreiche Nachahmer - auch in Lateinamerika, so in Mexiko, Brasilien und Chile, entstanden in den 1930er Jahren nach gleichem Muster organisierte Bewegungen. Ihr Zulauf war meist nur mäßig, doch gelang es ihnen, das eingefahrene Parteien- und Parlamentssystem dieser Länder wenn nicht zu erschüttern, so immerhin empfindlich zu stören. In Organisation und Härte des politischen Kampfes standen sie ihren europäischen Vorbildern kaum nach, und gleich deren Aktionismus gipfelte der ihre in politischem Mord und gewaltsamen Staatsstreichversuchen. Der spektakulärste davon - nach dem brasilianischen 'Integralisten'-Putsch vom selben Jahr - ereignete sich im September 1938 in Chile. Dort war 1932 eine Gruppierung entstanden, die Aufbau, Aktionsformen und Ideologie des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus getreu kopierte, gleichwohl ihren eigenständigen nationalen Charakter beständig herausstrich - der Movimiento Nacional-Socialista de Chile (MNS).
Diese Namensgebung wie auch die weitenteils 'deutsche' Biographie seiner Gründer verführen zu dem Schluss, dass zwischen deutscher und chilenischer Bewegung über das bloß Ideelle hinausgehende praktisch-politische Beziehungen bestanden, zumal in Chile eine der ältesten und rührigsten Landesgruppen der NSDAP auf dem lateinamerikanischen Kontinent überhaupt existierte. Beide, MNS und NSDAP, kämpften im Andenstaat zwar an verschiedenen Fronten, aber fanden teilweise Anhang und Unterstützung bei ein und derselben Bevölkerungsgruppe - den Deutschstämmigen Chiles. Die anfängliche 'Brüderschaft im Geiste' sollte später offenen Gegensätzen weichen, die ihre Ursachen weniger in grundsätzlichen ideologischen Differenzen als im aus der Not geborenen politischen Taktieren des MNS hatten.
1924 hatten Chiles Militärs in einem unblutigen Putsch die Macht erobert. Angetreten mit dem Anspruch, das politisch-parlamentarische System zu reformieren, vertrauten sie von vornherein auf die Wirksamkeit harten Durchgreifens, weit mehr als auf konkrete politische Konzeptionen. Ihr starker Mann, Oberst Carlos Ibáñez del Campo, war 1927 noch mit großer Wählerunterstützung zum Präsidenten gekürt worden, doch bereits vier Jahre darauf scheiterte sein diktatorisches Regime an den im Exportland Chile verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und am wachsenden Widerstand der nahezu um alle politischen Freiheiten gebrachten Bevölkerung. Noch einmal unternahmen die Offiziere einen Anlauf, sich an der Macht zu halten: im Juni 1932 putschte die Luftwaffe mit Marmaduque Grove an der Spitze und rief die hundert Tage währende 'Sozialistische Republik' aus. Dieses Unternehmen, ohnehin Etikettenschwindel, war kaum mehr als ein halbherziger Versuch, der Konzeptionslosigkeit der Militärs abzuhelfen. Die wechselnden Regierungen konnten keinen Anhang in der Bevölkerung gewinnen, auch wenn die Militärs sich selbst als die "demokratische Institution schlechthin" verstanden.
In dieser Zeit der politischen Wirren wurde am 5. April 1932 der MNS gegründet. Der Mann, der entscheidend dazu beitrug, war ein Mitglied der 'Junta Militar' von 1924 gewesen, der General Francisco Javier Díaz. Seine Begegnung mit diesem Militär beschrieb Carlos Keller Rueff, die Nummer Zwei des chilenischen Nacismo, wie folgt:
"Im März 1932 erhielt er [Keller] eine Einladung von General F.J. Díaz, der in Deutschland militärisch ausgebildet worden war. Er sollte im Hause des General einen anderen jungen Mann namens Jorge González treffen, von dem Díaz wußte, daß er sehr an politischen Aktionen interessiert war. Díaz zeigte ihnen eine Kopie von Adolf Hitlers NSDAP-Programm, das er - mit kleinen Änderungen - von einer nationalsozialistischen Partei in Chile übernommen sehen wollte." (Young 1974, Potashnik, 1974)
Von Anfang an waren die dominierenden Männer der Bewegung Carlos Keller Rueff, der Chefideologe, und ihr Führer, Jorge González von Marées, "El Jefe".
General Francisco Javier Díaz Valderrama, der Spiritus rector der MNS-Gründung, war Jahrgang 1877. Seine militärische Laufbahn, die er 1890 begonnen hatte, führte ihn 1901 zu einer wehrtechnischen Ausbildung nach Deutschland, später als Militärinstrukteur nach Kolumbien und an die Kriegsakademie in Santiago. 1926 wurde er zum Generalinspekteur des Heeres ernannt, vier Jahre darauf schied er aus dem aktiven Dienst. Er verfasste zahlreiche Handbücher und Schriften zu militärischer Organisation, Technik und Geschichte und war lange Zeit Militärredakteur der bedeutendsten Zeitung Chiles, des Mercurio.
Dieser einflussreiche General weckte das "regste Interesse" des NSDAP-Organs Völkischer Beobachter, sei "sein Werk doch die offizielle Gründung der nationalsozialistischen Partei" Chiles:
"Er spricht deutsch wie seine Muttersprache und liest mit Vorliebe deutsche Bücher. So hat er sich denn intensiv mit den Schriften Adolf Hitlers beschäftigt, diese ins Spanische übertragen und ist zur Überzeugung gekommen, daß der Nationalsozialismus seinem Lande zum Vorteil gereichen werde." (Völkischer Beobachter, Nr. 217, 4.8.1932, "Nationalsozialismus in Chile")
Die allermeisten der 25 Punkte des NSDAP-Programms liegen nun weitab von der chilenischen Realität jener Jahre, und so wird der Umstand, dass die NSDAP sich binnen weniger Jahre zur Massenbewegung aufschwingen konnte, sicher mehr Eindruck hinterlassen haben als das Programm selbst. Wenn dem deutschen Nationalsozialismus bei der Entstehung der chilenischen Bewegung eher Vorbildfunktion zukam als dem italienischen Faschismus, so resultiert das aus der allen Gründern gemeinsamen Sympathie, gar Bewunderung für Deutschland. Keller und Díaz kannten es aus eigener Anschauung, González hatte, ebenso wie Keller, eine deutsche Erziehung genossen.
Diese allgemein deutschfreundliche Einstellung findet ihren entsprechenden Niederschlag in Acción Chilena, einer Zeitschrift, deren erste Ausgabe im Januar 1934 in Santiago erschien und die noch vor der Tageszeitung Trabajo (ab 1936) die ideologischen Positionen des MNS repräsentierte. In diesem Anfangsjahr kommen noch des öfteren deutsche Autoren zu Wort, darunter so prominente Nazis wie Otto Dietrich, ab 1938 Reichspressechef im Propagandaministerium, mit einem Artikel zur 'Philosophie' des Nationalsozialismus, und Walter Buch, Vorsitzender des Obersten Parteigerichts der NSDAP, mit einer pathetischen Lobpreisung Hitlers.
War der MNS im ersten Jahr seines Bestehens eine kaum beachtete Politsekte, gelang es ihm in der Folgezeit, beständig neue Anhänger zu rekrutieren und sich als kleine, doch agile Gegenkraft zu den marxistischen Parteien zu etablieren. 1936 berichtete die deutsche diplomatische Vertretung )Gesandter (1935-1936) bzw. Botschafter (1936-1943) in Santiago war Wilhelm Freiherr von Schoen) in Santiago an das Auswärtige Amt:
Nationalsozialistische Bewegung Chiles (Movimiento Nacional-Sociaste de Chile, MSN)
Der Umstand, dass der MNS "mancherlei verwandte Züge mit der NSDAP aufwies und eine der SA nachgebildete Kampftruppe organisiert hatte" (3.2), ließ schnell den Verdacht aufkommen, die Nacistas pflegten mehr als nur lose Kontakte zu den deutschen Nazis. Diesen Vorwurf erhob der chilenische Botschafter in London, Agustín Edwards, als er bei seinem deutschen Amtskollegen Ribbentrop auf Weisung seines Präsidenten Alessandri in einer "delikaten Angelegenheit" vorstellig wurde. Die Nacistas, so die Anschuldigung, würden "von seiten der deutschen Kolonien Santiago und Valparaíso mit geldlichen und auch sonstigen Mitteln unterstützt". Dies würde, da die Kolonien auch mit Reichsangehörigen durchsetzt seien, als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chiles betrachtet und müsste im Interesse der beiderseitigen guten Beziehungen abgestellt werden. Die Informationen, die Ribbentrop daraufhin beim AA anforderte, hoben hervor, daß "die nationalsozialistische Bewegung [MNS] bei den Deutschstämmigen Chiles, unter denen sich vielleicht auch einige Doppelstaatler befänden, stark verbreitet sei" (3.3).
Weiter als Edwards ging der Chef des chilenischen Geheimdienstes, Waldo Palma. Dem britischen Botschafter gegenüber äußerte er, daß "die chilenische Nazi-Partei nicht unbeträchtliche Mittel von in Chile ansässigen deutschen Firmen erhielte", und dies "auf Anweisung der deutschen Regierung" (4). Daß der MNS einen bemerkenswerten politischen Erfolg im Süden des Landes verbuchen konnte, dort, "wo auch das deutsche Element zahlreich vertreten war", gab all diesen Verdächtigungen ständig neue Nahrung (3.4).
Chile hatte 1938 etwa 4,5 Millionen Einwohner, davon etwa 40.000 deutscher Abstammung. Der größte Teil von ihnen lebte im Süden des Landes fast unter sich und hatte sich deutsche Sprache und Gebräuche weitgehend bewahrt. Nach dem 1. Weltkrieg standen die Deutschstämmigen in ihrer Mehrheit der Weimarer Republik gleichgültig bis feindselig gegenüber; wie in den nationalistischen Kreisen Deutschlands machte auch hier das Wort vom Dolchstoß die Runde, und Glanz und Gloria des Kaiserreiches galten auch zu republikanischen Zeiten noch als Maßstab.
Vor diesem nationalistischen Hintergrund hatte die Landesgruppe der NSDAP/AO relativ leichtes Spiel. Bereits 1931 gegründet, wuchs sie in der Folgezeit rasch und gebot 1933 über vier Ortsgruppen und neun Stützpunkte. 1938 waren es dann elf Ortsgruppen und sechs Stützpunkte mit insgesamt 1.005 Parteigenossen.
Obwohl der Anteil der NSDAP-Mitglieder innerhalb der deutschen Kolonien Chiles relativ gering war, sollte bald nichts mehr ohne, geschweige denn gegen die Partei laufen. Bereits Anfang November 1933 waren die Vereine, Verbände und selbst die Kirchen der Deutschstämmigen weitgehend gleichgeschaltet.
Von Anfang an hatte das Auftreten der Landesgruppe in der chilenischen Öffentlichkeit Kritik ausgelöst, insbesondere Äußerungen zur Überlegenheit der arischen Rasse und ihr unverhüllter Antisemitismus. Für einen mittleren Skandal sorgte schon im März 1933 der Propagandaleiter der NSDAP-Ortsgruppe Santiago, als er in einer durch Rundfunk übertragenen Rede sagte: "Jeder Deutsche begeht ein Verbrechen gegen sein Vaterland, wenn er sich mit einer Chilenin verheiratet und so sein Blut mit einer inferioren Rasse mischt." (3.5). Die chilenische Presse kommentierte diesen Ausfall lang und breit, und alle Dementis und Beschönigungen der Landesgruppe halfen nichts. Nicht minder beleidigende Äußerungen "gegen die Heirat Deutschstämmiger mit Andersblütigen" führten im September 1937 zum Verbot des Deutschen Jugendbundes in Valdivia. Die chilenische Regierung ordnete dessen Auflösung mit der Begründung an, "der Jugendbund betriebe politische Propaganda, verteilte nationalsozialistische Schriften und hätte sich durch Tragen der Uniform mit Abzeichen und durch den deutschen Gruß die Mißbilligung der übrigen Chilenen zugezogen". Obendrein hätte Adolf Schwarzenberg, der Führer des Jugendbundes, "die Chilenen als minderwertig hingestellt und in Deutschland geringschätzig über Chile gesprochen". (3.6)
Der Intendent der Provinz, der das Verbot des Jugendbundes durchzusetzen hatte, begründete es aber auch damit, dass die Regierung [...] wohl den Nationalsozialismus mit dem chilenischen Nazismus, dessen Anwachsen man vermeiden möchte," identifiziert. (3.7)
Die Weltwirtschaftskrise hatte das exportabhabhängige Chile nahezu an den Rand des Ruins gebracht. Mit einem groß angelegten Programm zur Sanierung der maroden Staatsfinanzen und der Minenwirtschaft, wo aufgrund der Absatzschwierigkeiten die Arbeitslosigkeit verheerende Ausmaße erreicht hatte, gewann Arturo Alessandri die Präsidentschaftswahl von 1932. Seine rigorose Sparpolitik hatte bald die ersten Erfolge vorzuweisen: die Auslandsschulden konnten verringert, der Export gesteigert werden, und auch die Arbeitslosigkeit ging deutlich zurück. Freilich trafen die rapide steigenden Lebenshaltungskosten die zahlreichen Einkommensschwachen, immerhin 70% der Bevölkerung, besonders hart.
Gegen die unsoziale Politik Alessandris und seines Finanzministers Ross schlossen sich die Oppositionsparteien - Sozialisten, Kommunisten und Teile der Radikalen Partei Alessandris - enger zusammen. Auch die Nacistas agitierten lautstark gegen die Regierungspolitik, bekämpften aber nach wie vor ihre Hauptgegner, die marxistischen Parteien. Nicht selten verliefen die Auseinandersetzungen mit den Linken gewalttätig, so im Jahre 1936, als drei Mitglieder des MSN in den Auseinandersetzungen getötet wurden.
Bei der Kongreßwahl 1937 konnten die regierenden Konservativen und Liberalen trotz immer stärker werdender Opposition noch zulegen, während der MNS nur drei Mandate erringen konnte. Als in der chilenischen Presse wieder einmal Gerüchte über kriegerische Absichten Deutschlands in Südamerika kursierten, ging González erstmals - wohl wissend um die Assoziationen, die der Name seiner Bewegung unweigerlich weckte - auf Distanz zum deutschen Nationalsozialismus.
Sozialisten, Kommunisten und Radikale hatten mittlerweile ihre strikte Opposition gegen die Politik Alessandris koordiniert und sich bereits 1936 zur Volksfront zusammengeschlossen. Deren Forderungen nach einer Nationalisierung ausländischer Konzerne, einer Landreform zugunsten der Kleinbauern, höheren Mindestlöhnen und einer Stundung der Auslandsschulden unterstützten die Nacistas, wo es nur ging. Doch auf Einfluss in einer möglichen Volksfrontregierung durfte González mit seinem MNS deswegen noch nicht hoffen, und so versuchte er der Volksfront, die bislang keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 1938 nominiert hatte, einen Mann seines Vertrauens vorzuschlagen - den General Carlos Ibáñez, wenige Monate zuvor aus dem argentinischen Exil zurückgekehrt und nach wie vor mit großem Anhang im Militär. Der General selbst schien von González' Vorschlag überrascht, entschloss sich aber zu einer Kandidatur. Hingegen wollten sich die Linksparteien der Volksfront nicht hinter Ibáñez stellen und benannten nun ihren eigenen Kandidaten, den Radikalen Pedro Aguirre Cerda. Anfang 1938 standen sich somit drei Präsidentschaftsbewerber gegenüber: Gustavo Ross (Konservative und Liberale), Aguirre (Volksfront) und Carlos Ibáñez (Alianza Popular Libertadora und MNS).
Ein abenteuerlicher Vorfall im Kongress, in dessen Verlauf Abgeordnete der Volksfront und des MNS gleichermaßen zu 'Opfern' der Regierungsgewalt wurden, ließ Nacistas und Linke einander näher rücken. Anlässlich der feierlichen Kongresseröffnung am 21. Mai 1938 hielt Präsident Alessandri vor Abgeordneten und versammeltem diplomatischem Korps die übliche Begrüßungsansprache, als Volksfrontpräsident González Videla, allen Gepflogenheiten zum Trotz, Redezeit verlangte, um mit der Politik Alessandris abzurechnen. Da man ihm nicht das Wort erteilte, verließen die Volksfrontparteien unter lautstarkem Protest den Sitzungssaal. Bei ihrem Auszug kam es zu einigen Handgreiflichkeiten mit politischen Gegnern; daran beteiligt war auch González von Marées, der schließlich eine Pistole zog und schoss. Die Ordnungskräfte, Carabineros, griffen ein und verhafteten nach zumeist wahllosen Prügeleien mehrere Abgeordnete, neben dem Führer des MNS vor allem Politiker der Volksfront.
Wenige Tage nach der turbulenten Kongresseröffnung gab der MNS eine Erklärung "anläßlich des Abschlusses eines Abkommens über das gemeinsame parlamentarische Vorgehen aller Oppositionsparteien" ab. In ihr beteuerte er "feierlich, daß er mit dem internationalen Faszismus weder zusammenarbeite noch zusammengearbeitet habe", dass seine Zielsetzung "demokratisch, antikapitalistisch und antiimperialistisch" sei und er zur "Einigung der politischen Linksparteien" beitragen wolle. Diese Erklärung sandte die Deutsche Botschaft in Übersetzung nach Berlin und vermerkte dazu abschließend:
Am Mittag des 5. September 1938 besetzte eine Gruppe von fünfzig Männern das Gebäude der Sozialversicherung. Vom Dach des Hochhauses nahmen sie den in unmittelbarer Nähe gelegenen Präsidentenpalast, die Moneda, unter Feuer. Ein dort postierter Carabinero wurde von ihnen erschossen. Zur gleichen Zeit drangen siebzig Bewaffnete in die Universität ein und errichteten Barrikaden. Nach verwirrendem Hin und Her bestand schließlich Gewissheit: González' Nacistas putschten. Armee- und Carabineroeinheiten wurden alarmiert und zur Verteidigung der Moneda befohlen. Das Regiment Tacna stürmte die Universität, wo die Nacistas nach kurzem Kampf - sechs ihrer Leute wurden getötet - die Waffen streckten. Als das Regiment Buin nahe der Moneda aufmarschierte, stellten die Nacistas das Feuer ein und empfingen die Soldaten ? in der falschen Annahme, diese Truppe würden den Putsch unterstützen - mit Jubel. Das Regiment ging jedoch gemeinsam mit den Carabineros in Stellung und beschoss das besetzte Gebäude. Jeder Versuch, die Sozialversicherung zu stürmen, scheiterte an der heftigen Gegenwehr der Nacistas. Auf Befehl Präsident Alessandris und des Carabinero-Generals Arriagada schaffte man die in der Universität festgenommenen Putschisten zum umkämpften Gebäude, damit sie ihre Kameraden zur Aufgabe überredeten. Dieser Versuch war schließlich erfolgreich, nachdem die Nacistas die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannt hatten und auch keinerlei Hilfe der Armee - wie ursprünglich geplant - erhoffen durften. Am Nachmittag war der bewaffnete Aufstand endgültig niedergeschlagen. Doch die letzten Schüsse fielen, als alles vorbei war - fast sechzig Nacistas, die sich bereits ergeben hatten, wurden von Carabineros in der Sozialversicherung massakriert.
Die Hintergründe dieses so abenteuerlichen wie dilettantischen Putschversuches González' und seiner Nacistas sind niemals lückenlos aufgedeckt worden, ebenso wenig die Frage, wer den Befehl zur Liquidierung der gefangenen Putschisten gab. Für González war der Coup vom 5. September die letzte Chance, den Niedergang seiner Bewegung noch abzuwenden. Unwiderruflich hatte er seine politische Zukunft und die des MNS an die Person des Generals Ibáñez geknüpft; eine Fehlentscheidung, denn diesem Präsidentschaftsbewerber, für die Linke ohnehin nicht akzeptabel, gelang es zu keiner Zeit, eine auch nur annähernd für einen Sieg genügende Wählerunterstützung zu bekommen.
Der Aktionsplan für den Tag des Putsches sah vor, dass Nacistas und Einheiten der Armee getrennt vorgingen. Die Nacistas sollten mit ihrem Angriff auf die Sozialversicherung und die Universität Verwirrung stiften, während General Ibáñez mit ihm ergebenen Truppenteilen auf die Hauptstadt marschierte und die Regierung entmachtete. Bei aller Verehrung, die Ibáñez immer noch bei seinen Offizierskameraden genoss - lehnten sie sich aber wohl doch einen Putsch zusammen mit dem MNS ab. So sprang Ibáñez im letzten Moment ab und brachte sich am 5. September in der Infanterieschule von San Bernardo in Sicherheit, wo er am selben Tage arretiert wurde. Wenige Tage nach dem fehlgeschlagenen Putsch stellte sich González von Marées der Polizei; viele führende Nacistas, darunter Carlos Keller, waren bereits zuvor verhaftet worden.
Da sich unter den getöteten Putschisten mehrere Deutschstämmige befanden, waren die deutschen Diplomaten nach den bisherigen leidvollen Erfahrungen darum bemüht, NSDAP und Deutschchilenen nicht wieder ins Gerede kommen zu lassen:
Der 5. September sollte erheblichen Einfluss auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober haben. Die Öffentlichkeit reagierte mit Empörung und Wut auf das blutige Vorgehen der Sicherheitskräfte in der Sozialversicherung, für das sie maßgebliche Regierungspolitiker, gar den Staatspräsidenten selbst, direkt verantwortlich machte; einzelne Verhaftungen Oppositioneller und die Verhängung einer Pressezensur taten ein übriges. Der diskreditierte Ibáñez musste auf seine Kandidatur verzichten und forderte nun seine Anhänger auf, für die Volksfront zu stimmen. Seinem Aufruf schlossen sich González und der MNS an. Leicht gemacht wurde ihnen diese Entscheidung durch die Zusage Aguirres, im Falle seines Wahlsieges alle in den Umsturzversuch verwickelten Personen zu amnestieren. Die Wahl am 25. Oktober 1938 endete mit einer Sensation: Aguirre siegte mit einem Vorsprung von wenigen tausend Stimmen vor dem Konservativen Ross. Den Ausschlag hatten dabei die MNS- und Ibáñez-Anhänger gegeben.
Anfang 1939 nahm der MNS Abschied von seiner Vergangenheit. Die Vanguardia Popular Socialista, wie die Bewegung sich jetzt nannte, wollte mit dem internationalen Faschismus nichts mehr zu tun haben. Ihr alter und neuer Führer González bekannte öffentlich, dass es "falsch gewesen wäre, die frühere chilenische nationalsozialistische Bewegung dem italienischen und deutschen Vorbild nachzugestalten". Fortan, so González, sei die Doktrin der Partei "antifaschistisch, antiimperialistisch und klassenkämpferisch". (3.12)
Der 5. September 1938 war, noch vor der Umbenennung und Spaltung 1939, das unwiderrufliche Ende des MNS. Wie all die Jahre zuvor suchte er auch in dieser Stunde sein Heil im Aktionismus, der letzte Anlauf einer Bewegung, die ihre Möglichkeiten ausgereizt sah. Die politische Klientel des chilenischen Faschismus war die Mittelschicht, und auf deren ideologische Bedürfnisse stellte der MNS seine Propaganda ab. Ihren kleinbürgerlichen Antikapitalismus - die Angst vor dem großen Geld, vor der in wichtigen Industriezweigen nahezu totalen Vorherrschaft ausländischer Konzerne, mit denen die einheimische Oligarchie bereitwillig paktierte - und ihr wachsendes Unbehagen angesichts einer erstarkenden Arbeiterbewegung artikulierte der MNS mit einer nationalistischen und antiimperialistischen Propaganda auf der einen, einer antimarxistischen auf der anderen Seite.
Als alleinige Zielgruppe war die chilenische Mittelschicht jedoch zahlenmäßig zu schwach, als dass sich der Nacismo zu einer Massenbewegung aufschwingen konnte. Wenn er gerade unter den Deutschstämmigen einigen Rückhalt fand, so deshalb, weil diese in ihrer übergroßen Mehrheit eben dem Mittelstand angehörten. Wahlen verliefen denn auch enttäuschend für den MNS; als bestes landesweites Ergebnis erzielte er in den Kongresswahlen 1937 3,5% der Stimmen und konnte sich auf dem Höhepunkt seiner Popularität auf etwa 20.000 Anhänger stützen. Wollte die Bewegung nicht bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt sein, musste sie andere Wählergruppen erschließen, und die der Linksparteien waren Verlockung genug. 1937/38 begann der MNS, seine Taktik zu ändern. Zunehmend rückte er seine antikapitalistischen und antiimperialistischen Positionen in den Vordergrund der Propaganda, ohne deshalb schon dem Faschismus vollends abzuschwören. Seine gelegentlich lautstarken Ausfälle gegen den 'Hitlerismus' und das Aufgreifen sozialer und politischer Forderungen der Linken ermöglichten ihm schließlich eine Annäherung an die Volksfront, der - aus ebenso taktischen Überlegungen heraus - der MNS eine Zeitlang durchaus von Nutzen sein konnte.Der deutsche Nationalsozialismus in Chile
MSN und NSDAP – Gegensätze
Im März 1938, sieben Monate vor der Präsidentschaftswahl, griff González dann NSDAP und Deutschstämmige frontal an. Öffentlich wandte er sich gegen das "Eindringen des hitleristischen Gedankens in die deutschen Kolonien Südamerikas" und kritisierte Rassedünkel und die Tendenz der Abschließung der Deutschen gegenüber ihren chilenischen Mitbürgern:Wahlkampf 1938
Der Putsch
Von Schoen bestritt jede Einmischung der NSDAP in die innere Politik Chiles und machte zugunsten der Deutschchilenen geltend, "daß die ungeheure Mehrheit der Volksdeutschen, zuerst vielleicht durch Namensgleichheit der chilenischen Partei mit unserer Bewegung angezogen und getäuscht, nach Erkenntnis des wahren Wesens der 'nacistas' sich schon lang vor dem 5. September wieder von diesen abgewendet habe". (3.11) Fazit