Migrationsforschung
Von einem Wanderungsvorgang oder einer Migration spricht man erst dann, wenn die Wohnsitzverlegung eines Individuums über eine
Zur Messung und zum Vergleich von Wanderungsvorgängen werden folgende Einheiten/Kennziffern verwendet:
Definition
Unter räumlicher Mobilität wird jede Positionsveränderung eines Individuums zwischen verschiedenen Einheiten eines räumlichen Systems verstanden. Räumliche Mobilität ist unabhängig von der Reichweite der Bewegung (große oder geringe Distanzen) und ihrer Frequenz (einmalig oder regelmäßig, selten oder häufig) definiert.
angelegt ist.
Die auf diese Weise beschriebenen Wanderungsvorgänge lassen sich weiter differenzieren nach Reichweite, Motiven und strukturellen Merkmalen der Wandernden.Forschungsansätze
Mit dem Einsetzen der großen Überseewanderungen aus Europa ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts nahm auch das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung und Erklärung solcher Wanderungsprozesse stark zu. Zunächst versuchte man, Wanderungsvorgänge summarisch zu erklären, später kamen Erklärungsansätze hinzu, die von der subjektiven Entscheidung einzelner Individuen ausgehend, Wanderung zu erklären versuchten (verhaltentheoretische Ansätze).Historischer Ansatz
Einer der ersten Erklärungsansätze von E.G. Ravenstein ging vom empirischen Befund der Wanderung selbst aus. Er veröffentlichte in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre seine Wanderungsgesetze, die er aus der Auswertung von Daten von Volkszählungen gewonnen hatte. Diese Gesetzmäßigkeiten weckten das Interesse weiterer Forscher, die die Ravenstein'schen Gesetze teilweise bestätigten und ergänzten. Sinngemäß lauten diese Theoreme:
Ein weiterer grundlegender Ansatz zur Erklärung von Wanderungen ist Zelinskis Modell des Mobilitätsübergangs (1971), das das Mobilitätsverhalten einer Gesellschaft mit ihrem sozioökonomischen Entwicklungsstand in Verbindung bringt. In Analogie zum Modell des demographischen Übergangs werden fünf Entwicklungsphasen unterschieden.
Distanz- und Gravitationsmodelle
Bei der empirischen Betrachtung von Wanderungsprozessen zwischen einem Quellort und verschiedenen, unterschiedlich weit entfernten Zielorten über einen längeren Zeitraum, wird ein starker Zusammenhang zwischen Wanderungsvolumen und Distanz deutlich, wie bereits von Ravenstein erkannt. Bei der Suche nach einem geeigneten Modell für die Erklärung dieses Zusammenhangs, erkannten Geografen (Kant, 1946; Stewart, 1941; Zipf 1949) Gemeinsamkeiten mit dem physikalischen Gravitationsgesetz von Newton. Der Zusammenhang zwischen dem mit der Distanz zwischen Quell- und Zielort abnehmenden Wanderungsvolumen lässt sich gut mit diesem Distanzmodell beschreiben (dem jedoch noch die "Masse" als Eigenschaften von Quell- und Zielort fehlt, siehe unten):
Beim Vergleich zwischen empirisch und mathematisch ermittelten Werten fällt auf, dass das obige Modell die Wanderungsvolumina für kurze Distanzen überschätzt. G. Zipf und J. Stewart entwickelten daher die im Modell enthaltene Ausgangsüberlegung weiter und erweiterten es zu einer für Zwecke der Demografie geeigneten Abwandlung des Newton'schen Gravitationsgesetzes.
Zumeist wird "Masse" mit den Bevölkerungszahlen gleichgesetzt, die sich leicht der amtlichen Statistik entnehmen lassen. Damit wird das Wanderungsvolumen also nicht nur ansteigen, wenn die Distanz verringert wird, sondern auch wenn die Masse von zwei betrachteten Regionen größer ist als die Masse anderer Regionen. Sicherlich wird allein die Bevölkerungszahl keine befriedigende Modellierung ergeben, denn unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzungen in den betrachteten Regionen wirken ebenfalls auf die Wanderungsströme ein. Eine bevölkerungsreiche Region, in der eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, hat sicherlich eine geringere Anziehungskraft und damit Masse, als eine gleichgroße Region mit einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit. Ein Vorschlag (Haggett, 1991) lautet daher, die Masse als das Produkt aus Bevölkerungszahl und Durchschnittseinkommen zu bestimmen.
Mathematische Modelle für die Abbildung und Erklärung eines derartigen Komplexes von Einflussgrößen, werden mit Hilfe der statistischen Regressionsanalyse erstellt. Multiple Regressionsanalysen versuchen, eine abhängige Variable - hier das Wanderungsvolumen - mit einer Anzahl von unabhängigen Variablen (z.B. Durchschnittseinkommen, Zahl der Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen, Wohnungsangebot, Distanz etc.) zu erklären. Das Ziel bildet eine Regressionsgleichung, als ein mathematisches Modell, welches die Ausprägungen der Zielvariablen aus einer mathematischen Funktionsbeziehung der erklärenden Variablen herleitet. Auch sie repräsentiert eine Wenn-Dann-Beziehung wie das Distanz- und das Gravitationsmodell, wird allerdings in der Regel wesentlich komplexer ausfallen.
Auch wenn dieser Ansatz durch die größere Zahl der eingehenden Faktoren wirklichkeitsnäher erscheint, darf nicht übersehen werden, dass eine Vielzahl von Faktoren, die eine Wanderung ebenfalls beeinflussen, sich nicht unmittelbar messen lassen (beispielsweise das Image einer Region).
Den Prozess der Informationsgewinnung und -bewertung, der (möglicherweise) zu einer Standortverlagerung führt, versuchen entsprechende Modelle abzubilden (Roseman u.a., siehe auch Migration (Soziologie)). Die Informationen, die in eine Entscheidung für oder gegen eine Wanderung einfließen, entstammen zumeist dem typischen, wöchentlichen Aktionsradius (Aktionsraum, activity space) einer Person oder eines Haushaltes. Eine Unzufriedenheit mit der Ausgangssituation kann dabei auf unterschiedlichen Faktoren beruhen, die sich nach den Daseinsgrundfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Erholung) gliedern lassen. Aus jedem Faktorenbereich können einzelne Umweltreize als Stressoren die Bewertung des gegenwärtigen Wohnstandortes beeinflussen.
Die Modelle bilden - meist in Form von Flussdiagrammen - die Entscheidungsalternativen des Individuums/Haushaltes auf, die jeweils zufällig jedenfalls nicht deterministisch getroffen werden. Grundsätzlich lassen sich vier Handlungsalternativen beim Auftreten von Stressoren unterscheiden:
Erklärungsansätze für aktuelle Wanderungsbewegungen und Modelle für die Prognose zukünftiger Wanderungen haben daher mehr als nur rein wissenschaftliche Bedeutung. Sie finden immer häufiger Berücksichtigung in aktuellen politischen Handlungsfeldern (vgl. Zuwanderungsgesetz).
Regressionsmodelle
Gravitationsmodelle können Wanderungen zwar gut beschreiben aber nicht vollständig erklären. Als einzige Eigenschaften von Quell- und Zielgebiet gehen in diese Modelle Bevölkerung und Distanz ein. Neben der Masse von interagierenden Regionen gibt es aber noch eine Vielzahl weiterer Merkmale, die die vom einzelnen Individuum als positiv oder negativ empfundenen Eigenschaften (push- und pull-factors) bestimmen und Wanderungsvorgänge ebenso beeinflussen, wie die zwischen den Regionen liegenden Zwischenräume, die entweder eine Wanderung hemmen (intervening obstacles) oder ablenken (intervening opportunities) können.Wahrscheinlichkeitstheoretische Wanderungsmodelle
Die bisher vorgestellten Modelle dienen zur Beschreibung und Erklärung von summarischen Wanderungseffekten. Auf der Mikroebene der Entscheidungen einzelner Individuen lassen sich mathematische Kausalbeziehungen jedoch nicht formulieren. Wanderungsentscheidungen lassen sich hier - wie alle individuellen Entscheidungen - lediglich auf wahrscheinlichkeitstheoretischer Basis (Probabilistik) vorhersagen. Probabilistische Modelle berücksichtigen bei Standortentscheidungen den unterschiedlichen Informationsgrad der Wandernden.Globale Bedeutung
Wanderungen sind ein wesentliches Element für Bevölkerungsveränderungen insbesondere, weil sie wesentlich kurzfristiger wirksam werden als die natürlichen Bevölkerungsbewegungen. In den frühindustrialisierten Ländern bestimmen Wanderungsvorgänge derzeit weit überwiegend die Bevölkerungsbewegung insgesamt. Die Dimensionen sowie die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen von großen Wanderungsbewegungen treten damit angesichts eines
immer mehr ins öffentliche Bewusstsein.Literatur