Middlemarch
Der Roman Middlemarch (1871-72) der englischen Autorin George Eliot gehört zu den wichtigsten viktorianischen Romanen des 19. Jahrhunderts. Die Autorin (George Eliot ist das Pseudonym von Marian Evans) schildert darin eine typisch englische Kleinstadt um 1830, im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung. Der Name dieser fiktiven Kleinstadt ist Middlemarch. Die vier unterschiedlichen Handlungsstränge lassen ein facettenreiches Bild der englischen Gesellschaft jener Zeit entstehen. Das mehr als 800 Seiten starke Buch behandelt alle Lebensbereiche, die auch heute noch für uns von Belang sind: menschliche Beziehungen, Liebe, Intrigen, das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft, Religion, Kunst, Wissenschaft.Die bemerkenswerten Charakterstudien des Romans sind zeitlos realistisch: Die "Heldin" dieses Bildungsromans, Dorothea Brooke, ist idealistisch und naiv. In ihrem Wunsch, Gutes zu tun und sich für andere aufzuopfern, wird sie mit der heiligen Theresa von Avila verglichen. Sie heiratet Edward Casaubon, einen ältlichen, unterkühlten Gelehrten, der schon seit Jahren an seiner großen, wissenschaftlichen Veröffentlichung arbeitet, ohne zu merken, dass die Forschung ihn längst eingeholt hat. Sie möchte ihm bei seiner wissenschaftlichen Arbeit helfen, er lässt sie jedoch nicht daran teilhaben und behandelt sie herablassend. Hier wie auch in der Charakterdarstellung anderer weiblicher Figuren findet sich eine deutliche Kritik George Eliots an der schlechten Bildung, die man Frauen jener Zeit zuteil werden ließ.
Nach der desillusionierenden Erfahrung dieser Ehe heiratet Dorothea nach Casaubons Tod gegen den Willen ihrer Umgebung den Mann, den sie liebt: den jungen Künstler Will. Sie lernt, ihren Platz in der Viktorianischen Gesellschaft zu finden. Auch hier kritisiert die Autorin - wenn auch indirekt - die untergeordnete Rolle der Frau.
Es handelt sich jedoch keinesfalls um einen "Herz- und Schmerz-Roman", sondern um anspruchsvolle Literatur, die manchmal seltsam modern anmutet durch die humorvollen Kommentare des auktorialen Erzählers, der freundlich-ironisch die typisch menschlichen Schwächen der Charaktere aufzeigt.