Leichensynode
Die Leichensynode in Rom im Januar 897 war ein kirchlicher Schauprozess, zu dem Papst Stephan VI die Leiche seines Vorvorgängers Formosus exhumieren und diesen wegen angeblicher Missbräuche während seiner Amtsführung aburteilen ließ. Das makabere Schauspiel stellt einen der moralischen Tiefpunkte in der Geschichte des Papsttums dar.
Im Jahr 889 besiegte Wido den im Jahr zuvor zum König von Italien gekrönten Berengar und ließ sich in Pavia selbst die Krone aufsetzen. Der damalige Papst Stephan V unterstützte das Haus Spoleto widerwillig, da Widos Herzogtum in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rom lag er auch in der Stadt selbst großen Einfluss ausübte. 891 krönte der Papst Wido gar zum Kaiser.
Formosus, der Stephan V. noch im gleichen Jahr auf den Papstthron folgte, behielt die vorsichtige Politik seines Vorgängers bei: Er wiederholte 892 Widos Krönung, und erhob dessen Sohn Lambert II. von Spoleto zum Mitkaiser. Gleichzeitig erneuerte er insgeheim ein Hilfsersuchen seines Vorgängers an König Arnulf. Dieser folgte dem Ruf 894, kam nach Italien und besiegte Wido, der kurz darauf starb. Am 22. Februar 896 krönte Formosus schließlich Arnulf von Kärnten zum Kaiser, obwohl damals die Witwe Widos, Herzogin Ageltrude, über Rom herrschte.
Kurze Zeit nachdem Arnulf Rom verlassen hatte, nur sechs Wochen nach der Kaiserkrönung, starb Formosus etwa 80-jährig am 4. April 896. Dies hat ihn wohl davor bewahrt, noch zu Lebzeiten Ziel der Rachegelüste der Spoletiner zu werden.
Dieser ließ neun Monate nach Formosus' Tod die schon verwesende Leiche seines Vorgängers aus der Gruft holen, in päpstliche Gewänder kleiden und auf den Thron setzen. Dann wurde Formosus, der durch einen Diakon vertreten wurde, in einer dreitägigen Prozedur förmlich angeklagt und verurteilt.
Formosus wurde vorgeworfen, den Eid gebrochen zu haben, den er Johannes VIII 878 auf der Synode von Troyes geleistet hatte und demzufolge er nie wieder nach Rom hätte zurückkehren dürfen. Weiterhin wurde er beschuldigt, seine Rückversetzung in den Laienstand missachtet zu haben. Gegen diesen Anklagepunkt sprach, dass Papst Marinus I Formosus schon 883 restituiert hatte. Der Hauptanklagepunkt war jedoch der Vorwurf der Translation vom Bistum Porto auf den Stuhl Petri, also Formosus' Wechsel von einem Bischofssitz auf einen anderen. Die Translation war nach damals geltendem Recht nur in Fällen von Notwendigkeit (necessitas) oder Nutzen (utilitas) gestattet und deshalb nach früheren Papstwahlen auch schon geduldet worden. Nicht erlaubt war jedoch ein Bistumswechsel aus Ehrgeiz, und eben dies warf man Formosus vor.
Der Ankläger, Papst Stephan VI., hatte sich nach Kirchenrecht jedoch selbst der verbotenen Translation schuldig gemacht. Er war vor seiner Papstwahl Bischof von Anagni gewesen, ein Amt, das niemand anderes als Formosus ihm übertragen hatte. Ein Grund für die Veranstaltung der Leichensynode könnte für Stephan VI. daher gewesen sein, sich von dem Vorwurf der unrechtmäßigen Erhebung zum Papst zu reinigen. Denn in dem Urteil gegen Formosus, das von Beginn an feststand, wurde dieser für abgesetzt sowie alle seine Amtshandlungen und von ihm gespendeten Weihen für ungültig erklärt. Letzteres löste praktischerweise Stephans VI. eigenes "Translationsproblem". Denn da seine Weihe zum Bischof von Anagni nun ebenfalls ungültig wurde, war er de iure nie Bischof gewesen und konnte sich auch nicht des Wechsels in ein anderes Bistum schuldig gemacht haben.
Am Ende der Synode wurde Formosus wieder der päpstlichen Gewänder entkleidet. Wegen des angeblichen Eidbruchs hackte man ihm außerdem die Schwurfinger der rechten Hand ab. Seine Leiche ließ Stephan VI. zunächst auf den Begräbnisplatz der Fremden in Rom verscharren. Kurz darauf wurde Formosus erneut exhumiert und in den Tiber geworfen. Angeblich ist der Leichnam später von einem Mönch, dem Formosus im Traum erschienen sein soll, aus dem Fluss gezogen und heimlich bestattet worden.
Einen umfassenden Rehabilitationsversuch unternahm Papst Johannes IX, der zusammen mit Kaiser Lambert auf der Synode in Ravenna 898 u. a. die Beschlüsse der Synode verurteilte und das Pontifikat sowie die Ordinationen des Formosus für gültig erklärte.
Die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Adelsparteien nahmen in den nächsten Jahren an Heftigkeit und Grausamkeit noch zu. So kam 904 mit Sergius III wieder ein Angehöriger der Partei Stephans VI. an die Macht. Dieser, nach dem Zeugnis des Geschichtsschreibers und Bischofs Liutprand von Cremona ein Mörder auf dem Papstthron, verfolgte die Partei des Formosus erneut.
In dieser Zeit entstand eine Anzahl von Streitschriften von Anhängern des Formosus. Bei den drei Autoren Auxilius, Vulgarius sowie einem Autor, dessen Name nicht bekannt ist, handelte es sich um Priester, die von Formosus geweiht und unter Sergius III. abgesetzt worden waren. Anhand von Präzedenzfällen, die sie aus dem Kirchenrecht und den Konzilstexten gesammelt hatten, hofften sie, die Gültigkeit ihrer Weihen beweisen zu können.
Die Ereignisse
Vorgeschichte
Die Herrscher des zerfallenden Karolingerreichs verloren in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss im italienischen Reichsteil. Nach der Absetzung Kaiser Karls III. des Dicken durch den Reichstag von Tribur bei Frankfurt am Main im Jahr 887 konkurrierten Markgraf Berengar I. von Friaul und Herzog Wido II. von Spoleto um die Macht in Italien. Zugleich hielt auch Karls Neffe, der neue ostfränkische König Arnulf von Kärnten, seinen Herschaftsanspruch aufrecht.Stefan VI. und die Leichensynode
Formosus' Nachfolger Bonifaz VI starb bereits nach nur 14-tägigem Pontifikat. Der im Mai 896 gewählte Stephan VI. erkannte zunächst ebenfalls Arnulf als Kaiser an, wechselte aber die Seite, nachdem Widos Sohn Lambert seine Machtposition in Rom wieder gefestigt hatte. Ob dieser die nachfolgende Leichensynode initiiert oder nur geduldet hat, ist in der Forschung umstritten. Für eine bloße Duldung spricht, dass Lambert später an der Rehabilitierung des Formosus beteiligt war. Ein Grund für den Schauprozess dürften auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Stephans VI. Papstwahl gewesen sein.Nachwehen
Stephan VI. konnte sich seines makabren Triumphes nicht lange erfreuen. Noch im August 897 wurde er gestürzt, in den Kerker geworfen und dort erwürgt. Als Urheber der Absetzung wird die römische Stadtbevölkerung genannt: Sie sah im Einsturz der Lateran-Basilika, der sich während des Pontifikats Stephans VI. ereignet hatte, womöglicher als Zeichen für den Zorn Gottes gegen die Urheber der Leichensynode. Stephans zweiter Nachfolger Theodor II, der nur 20 Tage lang auf dem Papstthron saß, ließ im Dezember 897 die Leiche Formosus' ehrenvoll bestatten und hob sämtliche Beschlüsse der Leichensynode wieder auf. Literatur