Lebenskraft
Die Lebenskraft (lat. vis vitalis) bezeichnet die im Vitalismus angenommenen sogenannten nicht materiellen Kräfte, die den belebten Naturkörpern zusätzlich zu chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten eigen sein sollen.
Als Lebenskraft werden geistige oder seelische Steuerinstanzen bezeichnet, die den geordneten und koordinierten Ablauf der am lebenden Organismus vonstatten gehenden Prozesse bewirken sollen. Die Einführung einer Lebenskraft in das Vokubular der Biologie ist so alt wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Erscheinungen des Lebens. Sie hat zunächst ihren Grund in dem Bestreben, die augenfällige Besonderheit des Lebendigen gegenüber dem Unbelebtem hervorzuheben und begrifflich zu fixieren.
Hippokrates ersann im 5. Jahrhundert vor der Zeitrechnung ein durchaus materialistisch deutbares Pneuma, auf dessen Wirkungen alle Lebenserscheinungen zurückgehen sollten (so etwa, wie der Sauerstoff eine der Grundbedingungen des Lebens ist). Aristoteles begründete eine bis in die Neuzeit wirkende vitalistische Lebenslehre, deren zentraler Begriff eine angenommene Lebenskraft, die Entelechie, bildete.
Er verband die biologischen Grundprobleme der Zeugung, Befruchtung und Keimesentwicklung mit den idealistischen Begriffen Dynamis (d.h. die Möglichkeit des Stoffes, etwas zu erleiden) und Entelechie ( als die formende, verwirklichende, den Stoff prägende Kraft). Der Begriff Entelechie wurde zum Modell aller späteren Lebenskraftkonzeptionen (siehe Aristotelismus).
Mit der Begründung der mechanisch-materialistischen Lebenstheorien durch Rene Cartes, G. A. Borelli und F. Sylvius Mitte des 17. Jahrhunderts setzte der fast 300 Jahre währende Streit zwischen Vertretern materialistischer und idealistischer Lebenslehren ein. Herausragende Vertreter des Vitalismus im 17. / 18. Jahrhundert waren Georg Ernst Stahl, der einen Dualismus von "Materien" und "seelischen Aktivitäten" vertrat, A. von Haller, der der Irritabilitätsforschung die folgenreiche These von der biologischen Eigengesetztlichkeit entnahm, C. F. Wolff, dessen "vis essentialismus" die Keimesentwicklung leiten sollte, und J. F. Blumenbach, der das Formbildungsproblem über den "nisus formativus" genannten Bildungstrieb erklären wollte.
F. W. J. von Schelling, J. Ch. Reil, G. R. Treviranus, L. Oken u.a. entwickleten zu Beginn des 19. Jahrhunderts naturphilosophische Systeme, in denen der Lebenskraftbegriff weniger auf konkrete biologische Leistungen als auf prinzipielle Naturgegebenheiten bezogen war. (z.B. Schellings Panvitalismus, Treviranus' Lebensstoff-Theorie). Neue Impulse erhielt die Lebenskraftlehre durch den einflußreichen Physiologen J. Müller, der das ideale Prinzip des Lebens in der sinn- und zweckerfüllten Form erblickte, in die er die physiologischen Abläufe hineindeutete (siehe Physiologischer Idealismus.
Die Annahme eines an sich existierenden Bauplans wurde für den Lebensbegriff besonders der sogenannten idealistischen Morphologie sowie der Entwicklungsphysiologie grundlegend. Der Aufschwung der experimentellen Forschung Mitte des 19. Jahrhunderts führte zu einem rapiden Rückgang der Lebenskraftspekulationen. Dazu trug wesentlich E. du Bois-Reymond, E. Brücke, W. Pflüger u.a. sowie die erkenntniskritischen Studien H. Lotzes (1842) bei.
Die Wiederbegründung des Labenskraftbegriffs um die Wende des 19. / [[20. Jahrhundert]s basierte auf experimentellen Ergebnissen der Entwicklungsphysiologie tierischer Organismen. Besonders die auf Ganzbildung gerichteten Regulatonsleistungen entwicklungsgestörter Keime sowie die durch neuartige Experimente erkannte typische Ordnung, Lokalisation und Auslösung biologischer Prozesse konnten von den Ende des 19. Jahrhunderts in der Entwicklungsbiologie vorherrschenden mechanisch-materialistischen Leittheorien (W. Roux, W. Weismann ) nicht erfaßt und erklärt werden.
Neben einer Vielzahl verschiedenartiger vitalistischer Deutungsversuche (J. Reinke, G. Wolff u.a.) war es besonders Hans Driesch, der einen Faktor E (abgeleitet aus Entelechie) zur Erklärung der Ganzheitsleistungen der Keimbildungsprozesse einführte (1899) und zu einem durchdachten vitalistischen System aufbaute. In Anlehnung an Driesch erlebten die Lebenskrafttheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Blüte (u..a im Holismus, Organizismus , Mnemismus, Organologie).
All diesen Lebenskrafttheorien ist die Trennung und metaphysische Entgegensetzung von materiellem Substrat und Bewegunsgesetz eigen. Dadurch wird die wissenschaftlich legitime Frage nach der biologischen Eigengesetzlichkeit von vornherein auf einige idealistische Grundzüge reduziert.
Grundbegriffe wie Ganzheit, Regulation und Potenz erhalten eine Sonderstellung zugewiesen, werden als Begriffe verselbständigt. Der Begriff für eine Leistung(Ganzheit) wird für die Leistung selbst gehalten. Darüber hinaus trennen die vitalistischen Theorien das Einzelne vom Allgemeinen (vergleiche "Baupläne"), die Form für die Funktion. Der vitalistischen Interpretation der biologischen Feldtheorien (bei Gurwitsch) liegt ein substantieller Materiebegriff zugrunde.
Die erkenntnistheoretische Wurzel der neueren Lebenskraftauffassungen liegt demnach in der Unkenntnis der Zusammenhänge bei der theoretischen Verarbeitung komplizierter, teilweise noch ungenügend experimentell aufgehellter Sachverhalte des ontogenetischen Entwicklungsgeschehens. Die Lebenskraftkonzeptionen sind seit Aristoteles aus der Entwicklungsbiologie heraus motiviert worden. Die moderne Entwicklungsphysiologie hat die Probleme der Regulation und Ganzheitsbildung sowie die später von H. Spemann hinzugefügte Organisationsproblematik schrittweise experimentell gelöst und damit den vitalistischen Lebenskraftspekulationen die Grundlagen entzogen.
Heute sind Lebenskraftlehren nur noch Bestandteil religiös-idealistischer Naturlehren, jedoch nicht mehr im Blick- und Diskussionsfeld der biologischen Theorie.Zur Definition und Erklärung der Idee der Lebenskraft
Die antike Wurzel der Lebenskraftlehren: das Pneuma und die Entelechie
Die Wiederentdeckung der Lehre der Entelechie im Mittelalter
Nach der Wiederentdeckung der Lehren des Aristoteles im 12. und 13. Jahrhundert und ihrer kirchlichen Sanktionierung beherrschte Aristoteles' Vitalismus die Anfänge der wissenschaftlichen Biologie bis ins 16./17. Jahrhundert(bei A. Cesalpini, K. Gesner, W. Harvey). Harveys "opifex" (1651) und der "archeus" von J. B. van Helmonts waren neue Worte für Aristotles' Entelechie, sie standen jedoch nicht mehr im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit. Zur naturphilosphischen Deutung der Idee der Lebenskraft
Der Rückgang der Lebenskraftlehren Mitte des 19. Jahrhunderts
Zur Wiederbeleung der Lebenskraftidee im 20. Jahrhundert
Zur Ausbildung verschienster philosphischer Interpretationen der Lebenskraftidee
Dabei wird die Lebenskraft jeweils unterschiedlich bestimmt und "lokalisiert". So wird der nichtmaterielle Faktor in naturwissenschaftlich bedeutsamen Eigenschaften des Lebendigen nachzuweisen versucht (Drieschs Entelechie in der "prospektiven Potenz" der Keimzellen; das Ganhzheitsprinzip des Holismus) oder aber in bestimmten philosophsichen Interpretationen verschiedener Grundeigenschaften der belebten Materie (Henri Bergsons "élan vitale", Reinkes Dynamismus, A. Gurwitschs Feldtheorie, G. Wolffs Zielstrebigkeit u.a.), in vom Einzelnen gelösten und verselbständigtem Allgemeinem (Baupläne J. v. Uexkülls, C. Herbsts), in der Übertragung der Materie-Bewußtsein-Relation auf die organischen Einheiten generell (O. Feyerabends Allbeseelung, A. Wenzels Psychovitalismus), in psychologischen und tierpsychologischen Analogien und Deutungen (F. J. J. Buytendijk, M. Maeterlinck, E. N. Marais), in der Idealisierung bestimmter komplizierter Anpassungsverhältnisse ( E. Bechers "fremddienstliche Pflanzengallen"), schließlich in der volkstümlichen Form der "Wunder des Lebens".Zur Reduktion des Wesens der biologischen Erscheinungen in der Lebenskraftlehre