Langemarck-Mythos
Als Langemarck-Mythos bezeichnet man die im Deutschen Reich erfolgte Verklärung eines verlustreichen Gefechts, zu dem es während des Ersten Weltkriegs am 10. November 1914 nördlich von Ypern gekommen war.Nach der Schlacht an der Marne im September 1914 zog sich das deutsche Heer hinter die Aisne zurück, wodurch der Übergang zum Stellungskrieg an der Westfront eingeleitet wurde. Im Oktober begann der "Wettlauf zum Meer", mit dem die französischen und britischen Truppen das deutsche Heer an der Küste Nordfrankreichs umfassen wollten, während man auf deutscher Seite bis nach Calais vorstoßen wollte. Bei der belgischen Stadt Ypern entbrannte die erste von insgesamt drei Flandernschlachten, die Ende November mit dem Erstarren der Front endete. Zu besonders verlustreichen Kämpfen kam es am 10. November, wobei allein 2000 deutsche Soldaten fielen. Die Oberste Heeresleitung kommentierte dies am 11. November mit einem irreführenden und folgenreichen Bericht, der von fast allen deutschen Zeitungen auf der ersten Seite abgedruckt wurde:
"Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange "Deutschland, Deutschland über alles" gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet."
Dieser Bericht wurde von großen Teilen der deutschen Bevölkerung unkritisch aufgenommen und löste die Entstehung eines Mythos über den heldenhaften Opfergang junger Soldaten aus. Dabei war allein die Erwähnung von Langemark als Schauplatz der Kämpfe unzutreffend, da diese sich 6 Kilometer nordwestlich zwischen Noordschote und Bikschote zutrugen. Dennoch gab man die Ortschaft Langemark - in eingedeutschter Schreibweise - wahrscheinlich wegen ihres deutsch klingenden Namens an. Zudem wurde nicht von dem maßgeblich beteiligten XXVII. Reservekorps, sondern allgemeiner und vielsagend von "jungen Regimentern" geschrieben. Da die deutschen Soldaten bei diesem Gefecht mit ihrer fast 30 Kilogramm schweren Ausrüstung über unwegsame Rübenäcker stürmen mussten, ist es als unwahrscheinlich einzustufen, dass sie dabei sangen. Trotzdem sollte durch die Erwähnung der ersten Zeile des Deutschlandlieds der Eindruck erweckt werden, dass es bei dem besagten Angriff zum spontanen Ausbruch patriotischer Gefühle kam.
Bereits am ersten Jahrestag der Kämpfe nördlich von Ypern veröffentlichten zahlreiche deutsche Zeitungen Artikel über den angeblichen Opfergang bei Langemark, wobei unter anderem die Forderung nach einem "Langemarck-Tag" formuliert wurde. Auch in Schulfeiern gedachte man der gefallenen "Langemarck-Kämpfer". Dabei wurden die Gestorbenen der deutschen Jugend oftmals als vorbildlich dargestellt. Nach dem Ende des vom Deutschen Reich verlorenen Krieges war das Verlangen nach Heldenverehrung offenbar besonders stark. 1919 veranstalteten ehemalige Angehörige des XXVII. Reserverkorps in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eine "Langemarck"-Gedenkfeier. Im selben Jahr führte die nationale Studentenorganisation einen "Langemarck-Tag" ein, der jährlich an deutschen Universitäten zelebriert wurde. 1924 fanden sich etwa 2000 Mitglieder von Jugendbünden auf der Rhön ein, um der Enthüllung eines Langemarck-Denkmals beizuwohnen. 1928 wurde der "Deutschen Studentenschaft" die Aufgabe übertragen, bei Langemark einen Soldatenfriedhof anzulegen. Die Studentenschaft gründete eine "Langemarck-Stiftung" und konnte den Bau des Friedhofs mit Hilfe von Spendengeldern bis zum Juli 1932 fertigstellen. Anlässlich der Einweihung des Friedhofs fanden im gesamten Deutschen Reich zahlreiche Gedenkfeiern statt.
Der Langemarck-Mythos wurde gegen Ende der 20er Jahre auch von den Nationalsozialisten aufgegriffen. Die NSDAP versuchte dadurch, die gebildete Jugend für sich zu gewinnen. Dabei wurde auch Kritik an dem bedenkenlosen Umgang mit dem Leben junger Menschen bei Langemark geäußert, nur um darauf hinzuweisen, dass ein "Führer" dem Tod dieser Soldaten einen höheren Sinn verliehen und dabei den Sieg garantiert hätte, der 1914 nicht errungen wurde. Der "Führer", der 1914 gefehlt habe, sei 1933 in der Gestalt von Adolf Hitler erschienen. Basierte der Langemarck-Mythos zunächst auf der Vorstellung, es hätten sich vor allem Schüler und Studenten bereitwillig für ihr Vaterland geopfert, gingen die Nationalsozialisten zu Beginn der 30er Jahre dazu über, die "Langemarck-Kämpfer" als junge Arbeiter, Kaufleute, Bauern und Studenten darzustellen, unter denen letztere nur einen Bruchteil ausgemacht hätten. Entsprechend wurde 1934 die "Langemarck-Spende der Deutschen Studentenschaft" in eine Spende der "Deutschen Jugend" umgewandelt. Dadurch sollte dem Mythos sein elitärer Charakter genommen werden, um ihn allmählich zugunsten anderer Mythen, die der nationalsozialistischen Weltanschauung eher entsprachen, zu verdrängen. Dazu zählte insbesondere der Mythos vom harten, durch das Fronterlebnis gealterten und gereiften Verdun- und Somme-Kämpfer, welcher der Umsetzung der NS-Ideologie dienlicher war. Die Pflege des Langemarck-Mythos verkam im Dritten Reich schnell zur einer schlichten Routine.
Adolf Hitler war am 10. November 1914 als Soldat des Bayerischen Infanterieregiments Nr. 16 bei Ypern stationiert, weshalb er sich mitunter als "Langemarck-Kämpfer" bezeichnete. Trotzdem schenkte Hitler dem Mythos nur wenig Beachtung. Grußworte, die er für Langemarck-Gedenkschriften verfasste, waren stets auffallend knapp und distanziert gehalten. Der romantisch verklärte Soldatentod bei Ypern widerstrebte seinem Idealbild vom entmenschlichten Kämpfer, der als Werkzeug einer Ideologie agiert.