Kriegsschulddebatte
Die Debatte um die Schuld oder Verantwortung des deutschen Kaiserreichs für den Ausbruch des 1. Weltkrieges hat die politische Diskussion in der Weimarer Republik und seit dem Beginn der 1960er Jahre die Geschichtsschreibung intensiv geprägt.Inhalt sowohl der politischen als auch der historischen Debatte ist die Frage, welches Maß an Schuld und Verantwortung dem Kaiserreich für den Kriegsausbruch zugerechnet werden muss.
Dieses Maß ist erheblich, da die Reichsregierung mit ihrer "Blankovollmacht" vom 5. Juli 1914 Österreich-Ungarn grünes Licht für das Vorgehen gegen Serbien gab und auf eine schnelle Aktion drängte, "um den jetzigen für uns so günstigen Moment (für einen Angriff auf Russland) nicht unbenutzt zu lassen", wie Wilhelm II meinte.
Die Stimmungslage im August 1914 soll an zwei Zitaten verdeutlicht werden. Am Vorabend des Einmarsches der reichsdeutschen Truppen in Belgien fasste der britische Außenminister Sir Edward Grey seine Sicht in die Worte: "In ganz Europa gehen die Lichter aus. Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie angezündet werden." Ganz anders der deutsche Schriftsteller Thomas Mann: "Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! ... Krieg! Es war die Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung." (für die deutsche Kriegsbegeisterung siehe auch: Augusterlebnis)
Die Frage der deutschen Kriegsschuld hatte für die inneren politischen Auseinandersetzungen sowohl im 1. Weltkrieg als auch in den Jahren der Weimarer Republik Bedeutung.
Der Botschafter des Deutschen Reiches in London, Fürst Lichnowsky, schrieb über seine Verhandlungen mit der britischen Regierung. Er offenbarte, dass die kaiserliche Regierung jedes Angebot für eine Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungswege brüsk zurückwies. Linke Sozialdemokraten sammelten aus verschiedenen Quellen Belege, die ihnen bewiesen, dass die Reichsregierung Österreich-Ungarn geradezu in den Krieg getrieben hatte. Die deutsche Kriegsschuld war eine der Konflikte, die schließlich zur Spaltung der Sozialdemokratie im Verlauf des 1. Weltkrieges führte. Vollends offenbar wurde die deutsche Bereitschaft zum Krieg durch Dokumente, die von den Bolschewistenen aus den russischen Archiven veröffentlicht wurde. Auch so manchem Kriegsbefürworter - wie dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann - war schon im August 1914 klar, dass die Reichsregierung nicht mit allen Mitteln versucht hatte, den Krieg abzuwenden.
Nach der Niederlage des Deutschen Reiches verlangte insbesondere Frankreich von der neuen Reichsregierung das Bekenntnis zur deutschen Kriegsschuld. Damit begründeten die französischen Politiker die Härte der Friedensbedingungen im Versailler Vertrag. Wohl wissend, dass die Siegermächte mit ihrer Verurteilung der kaiserlichen Regierung im wesentlichen Recht hatten, lehnten die Politiker der Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP das Eingeständnis ab.
So wurde die Beseitigung des Versailler Vertrages zu einem Ziel nationaler Politk, weil damit gleichzeitig die deutsche Kriegsschuld als falsch zurückgewiesen werden sollte.
Im Oktober 1961 veröffentlichte der Hamburger Historiker Fritz Fischer sein Buch "Griff nach der Weltmacht" mit der These: "Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges." Er sprach damit gegen die vorherrschende Meinung, das Reich sei - wie die anderen Staaten auch - in den Krieg hineingeschlittert. Eine hitzige Debatte begann, die bis heute zwar abgekühlt aber noch nicht beendet ist.
Zu den wichtigsten Kontrahenten Fischers gehörten die Historiker Egmont Zechlin, Karl-Dietrich Erdmann und Andreas Hillgruber. Auch sie erkannten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß die initiierende Verantwortung des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg an, gingen aber davon aus, daß die Reichleitung unter dem Reichskanzler Bethmann Hollweg aus einem Gefühl der Defensive die politische Offensive suchte.
Bis heute bewegt sich die Historiographie zwischen den Positionen Fischers und denen seiner Kontrahenten. Es bleibt jedoch die nachhaltige Leistung Fritz Fischers, der apologetischen Geschichtsschreibung ein Ende bereitet zu haben, denn kein Historiker ist heute noch bereit, einen bedeutenden Anteil des Deutschen Reiches an dem Kriegsausbruch zu leugnen. Die "Fischer-Kontroverse" hat zudem dazu beigetragen, dass von Historikern der anderen kriegsbeteiligten Staaten die Rolle "ihrer" Regierungen mittlerweile kritischer gesehen werden kann.
siehe auch: Kriegsschuldlüge, DolchstoßlegendeAugusterlebnis
Politische Dimensionen
Historische Debatte (Fischer-Kontroverse)