Karneades
Karneades (griech. Καρνεάδης, lat. Carneades), * ca. 214 v. Chr/213 v. Chr in Kyrene, † 129 v. Chr/128 v. Chr in Athen, war ein griechischer Philosoph und gilt innerhalb der Platonischen Akademie als Begründer der sog. Neuen Akademie.
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Karneades studierte in Athen bei dem Stoiker Diogenes von Babylon und den Akademiker Hegesinos. Er schloss sich der Akademie an und übernahm nach dem Tod des Scholarchen Hegesinos 156 v. Chr/155 v. Chr dessen Amt, das er bis 137 v. Chr/136 v. Chr ausübte. Er erhielt das Athenische Bürgerrecht und wurde 155 v. Chr zusammen mit Diogenes von Babylon und dem Peripatetiker Kritolaos im Auftrag der Stadt in diplomatischer Mission nach Rom entsandt (sog. Philosophengesandtschaft), was eine hohe offizielle Ehrung bedeutete. Karneades hatte zahlreiche Schüler, die seine Lehre (die er selbst nie schriftlich niederlegte) weiterführten; zu nennen sind v.a. Kleitomachos, Metrodoros, Hagnon von Tarsos und Zenon von Alexandria.
Karneades' Leben und Meinungen sind v.a. aus den Zeugnissen Ciceros (Dialog Lucullus sowie die nur tlw. erhaltenen Academica posteriora) und des Sextus Empiricus bekannt, zudem überliefert Diogenes Laertius (Buch IV) zahlreiche Anekdoten über ihn.
Karneades zeichnete sich demnach durch umfassendes Wissen auf allen Gebieten sowie durch besondere rhetorische und dialektische Wendigkeit, dank derer er das von ihm mit Vorliebe praktizierte in utramque partem dicere (Argumentation für beide Seiten einer Streitfrage, vgl. Cicero, De oratore) zu solcher Vollendung brachte, dass sogar seine eigenen Schüler nicht wussten, welche Position Karneades selbst vertrat (Cicero, Lucullus 139).
Bei der Philosophengesandtschaft soll Karneades an einem Tag eine Rede 'für', am anderen 'gegen' die Gerechtigkeit gehalten haben, beide Male so überzeugend, dass die römische Jugend in helle Begeisterung geriet, Cato der Ältere jedoch auf rasche Verabschiedung der Gesandten drängte (Plutarch, Cato maior xxii 3; Laktanz, Divinae institutiones V 14f.). Auch wenn die Sicherheit dieser Überlieferung heute bezweifelt wird, war Karneades' Einfluss ein bedeutender Schritt zur Einbürgerung der Philosophie und Rhetorik in Rom.
Die doppelte Rede ist bezeichnend für Karneades' Lehre, die nicht irgendein Wissen über die Welt (gr. dógmata) darstellt, sondern eine Methode, ebensolches Wissen zu hinterfragen und zu relativieren. In Fortführung der Ansätze des Arkesilaos lehrte Karneades eine kritische bzw. negative Dialektik. Er entwickelte diese vornehmlich in Auseinandersetzung mit den Werken des Stoikers Chrysipp, der alle ihm bekannten skeptischen, d.h. die Möglichkeit sicherer Erkenntnis anfechtenden Argumente gesammelt und widerlegt hatte. Karneades widerlegte seinerseits die Widerlegungen Chrysipps. Und wie Chrysipp die zuvor von den Stoikern wenig gepflegte Erkenntnislehre und Logik systematisiert hatte, so systematisierte Karneades die zuvor (von Sophisten sowie Pyrrhon und dessen Schülern) meist nur lose verfolgte Erkenntniskritik.
Dazu übernahm er den stoischen Wissensbegriff samt dem stoischen Erkenntnismodell. Nach stoischer Lehre geht alles (empirische) Wissen auf phantasíai, d.h. in etwa "Vorstellungen" zurück, das heißt Vorstellungen einfacher Sachverhalte, die stets wahr oder falsch sind. Erkenntnis (katálepsis) kommt zu Stande, indem man einer wahren phantasía rational zustimmt und sie damit 'erfasst' (katalambánein). Der Stoiker darf aber niemals einer falschen Vorstellung zustimmen, da dies eine sittliche Verfehlung und damit moralisch verwerflich wäre. Wahre Vorstellungen erkennt man nun an ihrer unbestreitbaren Evidenz (enárgeia), mit der sie sich unmittelbar einleuchtend aufdrängen; eine solche die Wahrheit 'erfassende' Vorstellung heißt daher kataleptiké phantasiía; sie kann als stoisches Wahrheitskriterium gelten.
Wie Cicero darstellt (Lucullus 42, 79-98 u.ö.), bezweifelte Karneades nun erstens, dass man eine solche 'erfassende Vorstellung' sicher von einer trügerischen unterscheiden kann; egen der Relativität von Standpunkt und Erkenntnismöglichkeiten des Wahrnehmenden sowie dem ständigen Wandel des Wahrgenommenen seien Vorstellungen generell unzuverlässig und nicht sicher als 'erfassend' zu identifizieren. Da aber zweitens die Vernunft (lógos) auf die Vorstellungen als Material angewiesen sei, biete auch sie kein unabhängiges Wahrheitskriterium. Deshalb liefere weder Wahrnehmung noch Denken ein sicheres Kriterium der Wahrheit (Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker VII 165).
Das mit wichtigste Argument der antiken 'Dogmatiker', v.a. der Stoiker gegen die skeptische Erkenntniskritik war das apraxí-Argument, also der Vorwurf, wer der Möglichkeit sicherer Erkenntnis anzweifle, unterminiere die menschliche Fähigkeit zur rationalen Entscheidung, der Skeptiker sei mithin lebensunfähig. Als Anwort auf solche Vorwürfe entwickelte Karneades eine ausgeprägte Wahrscheinlichkeitslehre. Vorstellungen (phantasíai) sind laut Karneades in Bezug auf das vorgestellte Objekt wahr oder falsch, in Bezug auf den Vorstellenden aber mehr oder minder 'glaubhaft' (phithanós); die glaubhaften Vorstellungen wiederum erscheinen noch mehr oder minder deutlich als solche (wie das Folgende nach Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker VII). Während die Wahrheit der Vorstellung nicht direkt feststellbar ist, ist es ihre Glaubhaftigkeit sehr wohl; nun stellt Karneades fest, dass die "glaubhafte und deutlich so erscheinende" Vorstellung "in der Regel" (hós epí tó polý) auch wahr sei. Diese statistische Verbindung zwischen subjektiver Evidenz der Glaubhaftigkeit und objektiver Wahrscheinlichkeit erlaubt es Karneades, die 'glaubhafte Vorstellung' (pithané phantasía) zum Kriterium zu erheben. Ob sie freilich nur als Ersatz- und Handlungskriterium diente oder ob sie Karneades tatsächlich für ein Wahrheitskriterium hielt, das eben nur fallibel bzw. probabilistisch gültig wäre, ist in der Überlieferung wie in der modernen Forschung umstritten.
Karneades wandte seine Wahrscheinlichkeitslehre allerdings nach einhelliger Überlieferung nur auf einfache Sachverhalte, eben auf 'Vorstellungen' im stoischen Sinne an. Höherstufigen Argumentationen, besonders philosophischen Theorien und Systemen begegnete ermit der genannten Technik des in utramque partem dicere, d.h. er ließ die Theorien sich gegenseitig widerlegen, indem er sie gegeneinander ausspielte, ohne selbst einen festen Standpunkt einzunehmen.
Berühmt ist v.a. seine Auseinandersetzung mit der Ethik: er stellte eine systematische 'Tabelle' aller nur denkbaren Standpunkte in Bezug auf das 'höchste Gut' (télos) auf, die sog. Carneadea divisio, um dann alle Standpunkte, ob bisher in der Philosophiegeschichte vertreten oder nicht vertreten, wechselseitig durcheinander zu widerlegen, wobei er selbst nacheinander alle Standpunkte vertrat, aber wohl keinen selbst ernsthaft annahm (Cicero, De finibus V 16-21).
Ähnliches ist für andere philosophische Sachgebiete überliefert, etwa für Theologie, Willensfreiheit und Mantik. Auf keinem Gebiet scheint Karneades positive Lehren (dógmata) vertreten zu haben, sondern beschränkte sich ganz auf seine negative, 'kritische' Dialektik.
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