Immanuel Wallerstein
Immanuel Wallerstein (* 1930 in New York) US-amerikanischer Soziologe.
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Ausbildung und akademische Karriere
Wallerstein studierte an der New Yorker Columbia University, erwarb dort 1951 einen B.A, 1954 den M.A und 1959 den Doktorentitel und arbeitete dort anschließend als Dozent. 1971 wurde er Soziologieprofessor an der McGill University, ab 1976 lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1999 an der Binghamton University (SUNY), und war außerdem Leiter des dortigen Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems and Civilization. Wallerstein hatte verschiedene Gastprofessuren an Universitäten weltweit, erhielt zahlreiche Ehrentitel, war mehrmals kurzfristig "Directeur d'études associé" an der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" in Paris sowie von 1994 bis 1998 Präsident der ISA.
Theorie
Wallerstein war zunächst Experte für das post-koloniale Afrika, womit sich seine Publikationen bis in die frühen Siebzigerjahre nahezu ausschließlich befassten. Dann begann er, sich als Historiker und Theoretiker der globalen kapitalistischen Wirtschaft auf der makroskopischen Ebene einen Namen zu machen. Seine frühe Kritik am globalen Kapitalismus und sein Eintreten für "anti-systemische Bewegungen" haben ihn, ähnlich wie Noam Chomsky und Pierre Bourdieu, in letzter Zeit zu einer grauen Eminenz der Globalisierungskritik innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft werden lassen.
Sein wichtigstes Werk, The Modern World-System, erschien in drei Bänden 1974, 1980 und 1989. Darin knüpft Wallerstein hauptsächlich an drei intellektuelle Einflüsse an:
- Karl Marx, dem er folgt, indem er die entscheidende Bedeutung grundlegender ökonomischer Faktoren und deren Dominanz über ideologische Faktoren in der internationalen Politik unterstreicht;
- an den französischen Historiker Fernand Braudel, der die Entwicklung und politischen Implikationen ausgedehnter Netzwerke wirtschaftlicher Tauschbeziehungen in antiken Großreichen beschrieb;
- sowie - vermutlich - seine konkreten Erfahrungen und Eindrücke aus seiner eigenen Arbeit zum post-kolonialen Afrika sowie die verschiedenen Theorien zu "Entwicklungsländern".
Wallerstein lehnte den Begriff "Dritte Welt" ab. Er behauptete, es gäbe nur eine Welt, deren Teile von einem komplexen Netz ökonomischer Tauschbeziehungen eng miteinander verbunden seien - d.h. eine "Welt-Wirtschaft" oder ein Welt-System, in dem der Gegensatz von Kapital und Arbeit und die Akkumulation von Kapital durch konkurrierende Akteure (zu denen historisch z.B. Nationalstaaten gehören) für Spannungen verantwortlich seien.
Wallerstein verortete den Ursprung des modernen Welt-Systems im Nordwest-Europa des 16. Jahrhunderts. Ein zunächst nur leichter Vorsprung in der Kapitalakkumulation in Großbritannien und Frankreich, entstanden durch spezifische politische Umstände am Ende des feudalen Zeitalters, setzten einen Prozess allmählicher Expansion in Gang. Als Ergebnis dessen existiert heute nur noch ein einziges weltumspannendes Netz oder System des ökonomischen Austausches. Eine wichtige Phase war dabei die Ära des klassischen Imperialismus, die quasi jedes Gebiet auf der Erde mit der europäisch geprägten kapitalistischen Wirtschaft in Kontakt brachte.
Kulturell, politisch und ökonomisch betrachtet ist das kapitalistische Weltsystem ist jedoch alles andere als homogen - vielmehr wird es charakterisiert von fundamentale Unterschiede in der zivilisatorischen Entwicklung sowie der Akkumulation von politischer Macht und Kapital. Im Gegensatz zu affirmativen Theorien über Modernisierung und Kapitalismus, interpretiert Wallerstein diese Unterschiede jedoch nicht als bloße Rückstände und Unregelmäßigkeiten, die im Rahmen der globalen Entwicklung überwunden werden. Vielmehr ist eine dauerhafte Unterteilung der Welt in einen Kern, eine Semi-Peripherie und eine Peripherie ein inhärentes Merkmal des Weltsystems. Gebiete, die vorläufig außerhalb der Reichweite des Weltsystems verblieben waren, treten zunächst auf der Stufe der Peripherie ins System ein. Es besteht eine fundamentale und institutionell stabilisierte Arbeitsteilung zwischen Kern und Peripherie: Während der Kern technisch hoch entwickelt ist und komplexe Güter herstellt, ist die Rolle der Peripherie die Lieferung von Rohstoffen, landwirtschaftlichen Produkten und billiger Arbeitskraft für die expandierenden Akteure des Kerns. Der ökonomische Austausch zwischen Kern und Peripherie findet unter ungleichen Bedingungen statt: Die Peripherie ist gezwungen, ihre Produkte zu niedrigen Preisen zu verkaufen, muss jedoch die Produkte des Kerns zu vergleichsweise hohen Preisen einkaufen. Ein ungleicher Zustand, der, einmal etabliert, aufgrund inhärenter, quasi-deterministischer Zwänge dazu tendiert, sich selbst zu stabilisieren. Die Zustände von Kern und Peripherie schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus und sind nicht auf bestimmte geografische Gebiete fixiert. Sie verhalten sich relativ zueinander und sind räumlich mobil: So gibt es eine semi-periphere Zone, die gegenüber dem Kern als Peripherie fungiert, der Peripherie gegenüber jedoch als Kern. Am Ende des 20. Jahrhunderts umfasste diese Zone z.B. Osteuropa, China, Brasilien.
Wie Naomi Klein kürzlich am Beispiel der "sweat shops" in Industrieländern gezeigt hat, können periphere, semi-periphere and zentrale Zonen auch sehr eng in einem einzigen geografischen Gebiet koexistieren.
Ein Effekt der Expansion des Weltsystems ist die fortschreitende Verwandlung aller Dinge in Waren, darunter auch menschliche Arbeitskraft. Natürliche Ressourcen, Land, Arbeit, menschliche Beziehungen werden schrittweise ihres "intrinsischen" Wertes entkleidet und in Güter auf einem Markt verwandelt, der dann ihren alleinigen Wert, den Tauschwert, diktiert.
Wallersteins Theorie hat auch scharfe Kritik provoziert, nicht nur von neoliberalen oder konservativen Kreisen. Historiker wiesen nach, dass einige seiner Thesen historisch ungenau sind; und zweifellos neigt Wallerstein dazu, die gesamte kulturelle Dimension zu vernachlässigen, indem er sie stark of die "offiziellen" Ideologien von Staaten reduziert, die sich dann leicht als bloße Agenten ökonomischer Interessen entlarven lassen. Dennoch stößt seine Theorie heute auf starkes Interesse seitens der Globalisierungskritik, der bisher eine solide und einheitliche theoretische Untermauerung fehlte, wie sie für die klassische Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts typisch war.
Die folgenden Absätze demonstrieren, dass Wallerstein weit davon entfernt ist, ein radikaler Revolutionstheoretiker zu sein, sondern sich des komplexen und ambivalenten Charakters des Weltsystems sehr bewusst ist.
"Im 16. Jahrhundert war Europa wie ein unruhiges Wildpferd. Der Versuch einiger Gruppen, eine Weltwirtschaft zu etablieren, die auf einer bestimmten Art von Arbeitsteilung basierte, in den Kerngebieten Nationalstaaten als politisch-ökonomische Garanten ihres Systems zu schaffen, und die Arbeiter dazu zu bewegen, nicht nur die Profite für andere zu erwirtschaften, sondern auch die Kosten zur Aufrechterhaltung des Systems, war nicht eben ein einfaches Unterfangen. Europa gebührt das Verdienst dafür, dass es gelang, denn ohne die Dynamik des 16. Jahrhunderts wäre die moderne Welt nicht entstanden, und - bei all ihren Grausamkeiten - ist es besser, dass sie entstanden ist, als wenn sie nicht entstanden wäre.
Europa gebührt aber auch das Verdienst dafür, dass es eben kein einfaches Unterfangen war, besonders, weil die Menschen, die die kurzfristigen Kosten zu zahlen hatten, sich nach Kräften über die Ungerechtigkeit all dessen empörten. Die Bauern und Arbeiter in Polen und England und Brasilien und Mexiko waren auf ihre jeweils unterschiedliche Art alle widerständig. Wie R.H. Tawney über die Unruhen der Landwirte im England des 16. Jahrhunderts sagte: 'Solche Bewegungen sind Beweis, dass es noch Menschen von echtem Schrot und Korn gibt, Beweis für echten Edelmut. ... Glücklich die Nation, deren Volk noch nicht vergessen hat, wie man rebelliert.'
Das Kennzeichen der modernen Welt ist die Fantasie ihrer Profiteure und das widerständige Selbstbewusstsein der Unterdrückten. Sowohl Ausbeutung als auch die Verweigerung, Ausbeutung zu akzeptieren sind unvermeidlich. Sie stellen den andauernden Gegensatz der Moderne dar, sind aneinander gebunden in einer Dialektik, die im 20. Jahrhundert noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat."
Quelle: The Modern World-System, Bd. I, S 233 (Übersetzung nicht autorisiert).
Zitate
Works