Historisch informierte Aufführungspraxis
Als Historisch informierte Aufführungspraxis (auch "historische Aufführungspraxis") bezeichnet man die Bemühung, Alte Musik in einem Klangbild wiederzugeben, das dem zur Zeitpunkt ihrer Entstehung nahekommt. Die Insider-Abkürzung für diese Art, Musik zum Klingen zu bringen, lautet "HIP".
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2 Aspekte der Historisch informierten Aufführungspraxis |
Ein wichtiger Meilenstein zur Wiederentdeckung Alter Musik war die Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion 1829 durch Felix Mendelssohn-Bartholdy. Das Werk wurde dabei allerdings weit reichenden Bearbeitungen (Instrumentierung, Kürzungen) unterzogen, da es in seiner Urgestalt als nicht zumutbar empfunden wurde. Zudem wurden einfach die aktuell üblichen Instrumente, Spieltechniken und Orchestergrößen eingesetzt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann eine allmähliche Besinnung auf werkgetreuere Aufführungstechniken zunächst bei der Barockmusik unter Zuhilfenahme von original erhaltenen Instrumenten bzw. exakten Nachbauten. Die Anfangs belächelten Pioniere waren in England Arnold Dolmetsch (1858-1940) und in Deutschland der Cellist Christian Döbereiner (1874-1961), der sich mit der Gambe beschäftigte und um 1905 die "Vereinigung für Alte Musik" gründete. Die so genannte Gambenbewegung der 1920er-Jahre war ähnlich der Wandervogel-Bewegung eine Form des Protestes gegen das (in diesem Fall künstlerische) Establishment.
Ab 1927 musizierte August Wenzinger unter Förderung des Amateurgeigers und Industriellen Hans Hoesch aus Hagen mit anderen interessierten Musikern in der "Kabeler Kammermusik" zum Teil auf Orginalinstrumenten. Der Initiative des Komponisten Paul Hindemith verdanken wir eine der ersten öffentlichen Aufführungen der Solo-Sonaten und -Partiten von Johann Sebastian Bach durch den Geiger Eduard Melkus zu Beginn der 1950er Jahre. Die Bach-Interpretationen des Ensembles um den Dirigenten und Cellisten Nikolaus Harnoncourt legten ab 1948 endgültig den Grundstein zur Historisch informierten Aufführungspraxis.
In ihren Anfängen wurde der historisch informierten Aufführungspraxis auch kritisch-ablehnend begegnet. Der Gegensatz zu etablierten Hörgewohnheiten führte dazu, dass von Vielen die schwierig zu spielenden historischen Instrumente mit ihren alten Stimmungssystemen als verstimmt, die ungewohnten Besetzungsstärken als mangelhaft balanciert, und die erzielten Klangbilder allgemein als schroff und unemotional empfunden wurden. Polemische Gegner sprachen den HIP-Interpreten gar jegliche Musikalität und künstlerische Eigenständigkeit ab. Diese Debatte ist heute beendet; nur noch sehr wenige Interpreten ignorieren die Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis für ihr eigenes Musizieren.
Aktuelle fundierte Kritik der historisch informierten Aufführungspraxis formulierte der Musikwissenschaftler Richard Taruskin. Tatsächlich darf die Annäherung an historische Klangbilder nicht zum musealen Selbstzweck verkommen, denn sowohl Interpreten als auch Zuhörer sind Menschen von heute, die Alte Musik für sich, in ihren heutigen Lebenszusammenhängen entdecken, bewerten und einordnen müssen. Es genügt daher nicht, einfach den Stil anderer HIP-Interpreten zu kopieren, da nur eine neue, dogmatische Aufführungstradition entstehen würde. Bei aller musikologischen Korrektheit muss eine lebendige Auseinandersetzung sichergestellt sein.
Vielfach wurden früher Instrumente verwendet, die später ausstarben (z. B. Gamben, Zinken, Krummhörner). Diese müssen von Instrumentalisten neu erlernt werden, da die Kontinuität der Lehrtradition unterbrochen ist.
Aber auch heute noch bekannte Instrumente unterschieden sich deutlich von ihren heutigen Formen. Beispielsweise hatten Violinen andere Abmessungen sowie Saiten aus Tierdarm statt aus Metall und wurden mit Bögen gepielt, die anders als heutige geformt waren (gestreckt bis konvex statt konkav), was sich deutlich auf den Klang auswirkt.
In früheren Zeiten waren Stimmtonhöhen nicht einheitlich festgelegt (vgl. hierzu den Artikel Kammerton). Der für eine Aufführung gewählte Stimmton sollte dem Werk und den Instrumenten entsprechen.
Von entscheidender Bedeutung für eine angemessene Interpretation ist, dass das Frequenzverhältnis der Töne der Tonleitern untereinander den Bedingungen des Werkes entspricht. Ein Werk der Alten Musik mit einem moderneren Stimmungssystem aufzuführen, kann leicht ausreichen, den Charakter des Stücks völlig zu verändern, denn frühere Komponisten habe die verschiedenen Stimmungssysteme üblicherweise sehr bewusst in ihren Werken berücksichtigt.
Musikern war es früher weit mehr erlaubt, dem Notentext eigene Verzierungen und Improvisationen hinzuzufügen. Darüberhinaus wurde von den Komponisten generell nicht so akribisch notiert wie in späteren Zeiten. Es konnte beispielsweise vorausgesetzt werden, dass ausübende Musiker wussten, wie ein Tempowechsel auszuführen war. Der Freiraum für die Verantwortung des Interpreten drückte sich auch in der Generalbass-Technik aus.
Das spätere, quasi "standardisierte" Orchester gab es noch nicht. Die Aufführungsapparate waren im allgemeinen deutlich kleiner, und ihre Besetzung variierte von Werk zu Werk wie auch von Aufführung zu Aufführung.
Der frühere intensive Gebrauch von Knabenstimmen oder gar Kastraten stellt die heutige Musikpraxis verständlicherweise vor Probleme. Daher müssen auch Kompromisse eingegangen und stattdessen Frauenstimmen oder Countertenöre eingesetzt werden. Insgesamt vermutet man, dass die Stimmen früher kleiner waren und weniger Vibrato hatten.
Gedanken über die ursprüngliche Bestimmung eines Musikwerks fließen ebenfalls in die Interpretation ein.
Zur historisch informierten Aufführungspraxis gehört auch die Auswahl geeigneter Räume. Oft merkt man alten Musikwerken an, ob sie für einen kleinen und akustisch "trockenen" oder aber einen großen, hallenden Raum geschrieben wurden. Sehr bedeutend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass viele Kompositionen ausdrücklich die Ausdehnung des Raums einbeziehen, so z. B. in der Venezianischen Mehrchörigkeit.Entwicklung
Geschichte
Auflistung einiger Interpreten siehe: BarockmusikKritik
Aspekte der Historisch informierten Aufführungspraxis
Wahl der Musikinstrumente
Stimmton
Stimmungssysteme
Spielweisen und Verhältnis zur Notation
Ensemble-Größen
Gesangsstimmen
Kontext
Raum