Historikerstreit
Der Historikerstreit war in den Jahren 1986 und 1987 die in der Öffentlichkeit wahrgenommene Debatte über die Einordnung der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Holocaust, Shoa) in ein identitätsstiftendes Geschichtsbild der Bundesrepublik Deutschland.
Table of contents |
2 Die Debatte: "Viererbande" gegen "linke Aufklärer"? 3 Der "Historikerstreit" aus aktueller Sicht 4 Literatur 5 Weblinks |
1980 hielt Ernst Nolte einen Vortrag in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, der in gekürzter Fassung bereits im Juli 1980 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) sowie 1985 in einem Sammelband in englischer Sprache erschien, ohne in der fachfremden Öffentlichkeit weiter beachtet zu werden. Wer die "Hitlersche Judenvernichtung" nicht in einem bestimmten Zusammenhang sehe, so schrieb Nolte, "verfälscht die Geschichte", denn:
Ausgangspunkte
Dieser Rede wurde kaum Beachtung geschenkt, bis Nolte am 6. Juni 1986 in der FAZ eine Rede veröffentlichte, die er nicht halten konnte. Ausgehend von der Feststellung, dass alles das, "was die Nationalsozialisten später taten, mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung, in einer umfangreichen Literatur der frühen zwanziger Jahre bereits beschrieben war: ..., hielt Nolte "die folgende Frage für zulässig, ja unvermeidbar":
(zitiert nach: "Historikerstreit", S. 24)
- "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine "asiatische" Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer "asiatischen" Tat betrachteten? War nicht der "Archipel Gulag" ursprünglicher als "Auschwitz"? War nicht der "Klassenmord" der Bolschewiki das logische und faktische Prius des "Rassenmords" der Nationalsozialisten?" (zit. nach: Historikerstreit, S. 45)
Wenige Wochen vorher mahnte der Historiker Michael Stürmer (zu diesem Zeitpunkt politischer Berater des Bundeskanzlerss Helmut Kohl) - ebenfalls in der FAZ - mehr "Erinnerung" an, denn "Orientierungsverlust und Identitätssuche sind Geschwister." Es dürfe nicht ignoriert werden, "daß in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet." Dieser Zustand könnte bei unseren Nachbarn die bange Frage aufwerfen, "wohin das alles treibt" Denn: "Die Bundesrepublik hat weltpolitische und weltwirtschaftliche Verantwortung. Sie ist Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen." Deshalb ginge es bei der "Suche nach der verlorenen Geschichte ... um die innere Kontinuität der deutschen Republik und ihre außenpolitische Berechenbarkeit." (zit. nach: Historikerstreit, S. 36 und S. 38)
Dies waren die beiden Vorlagen zusammen mit Arbeiten der Historiker Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand, in denen Jürgen Habermas einige Wochen später in der Zeit eine "Art Schadensabwicklung" entdecken wollte und ihn gegen die "apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung" (Die Zeit, 11. Juli 1986) polemisieren ließ. Gegen Nolte gewandt schrieb er: "Die Naziverbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation und erklärt sich aus der 'asiatischen' Bedrohung durch eine Feind, der immer noch vor unseren Toren steht." Stürmer warf er vor, er plädiere " für ein vereinheitlichtes Geschichtsbild, das anstelle der ins Private abgedrifteten religiösen Glaubensmächte Identität und gesellschaftliche Integration sichern kann." Darin sah er "eine deutsch-national eingefärbte Natophilosophie." Wer den Deutschen die Schamröte über Auschwitz austreiben wolle, wer sie "zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzig verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen". Kurz: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus." (zit. nach. "Historikerstreit", S. 71, 73,76 und 75) Damit war die Debatte eröffnet.
Die folgenden Monate des Jahres 1986 und Anfang 1987 waren von einer Debatte mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Unterstellungen beherrscht - meist in der Form von Leserbriefen. Dazu kamen längere Aufsätze in Zeitschriften, die vom allgemeinen Publikum nicht so leicht wahrgenommen werden konnten. Hier schrieben Historiker mit dem Bemühen, den Streit zu versachlichen. Dies alles geschah vor dem Hintergrund von Museumsgründungen mit dem Schwerpunkt "Deutsche Geschichte", vorangetrieben vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und der vagen Ahnung, dass mit der Machtübernahme von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eine neue politische Konstellation in Europa Platz greifen könnte. Noch einmal lebte die Debatte um die Rede des damaligen Bundespräsidentenen Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Zusammenbruchs des Dritten Reiches im Vorjahr (1985) auf.
Als Zeitzeugen kann man hier Rafael Seligmann zitieren, der den nun folgenden Streit so beschreibt:
Die Debatte: "Viererbande" gegen "linke Aufklärer"?
Das Wort von der "Viererbande" (gemeint sind die von Habermas angegriffenen Historiker, s.o.) warf Elie Wiesel in die Runde, die angegriffenen Historiker (unterstützt durch den Publizisten Joachim Fest) wiederum versuchten liberale Historiker als "linke Aufklärer" abzuwerten und Habermas zu deren Sprecher zu erheben. Die tonangebenden liberalen Historiker jedoch nahmen ihre Fachkollegen Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vor Jürgen Habermas und Rudolf Augstein mit unterschiedlicher kritischer Distanz in Schutz, setzten sich mit Michael Stürmer politisch auseinander und stellten Ernst Nolte mit sachlichen Argumenten ins fachliche Abseits.
Nach wenigen Monaten erstarb die Auseinandersetzung. Um eine "Debatte" hatte es sich nicht gehandelt. Denn den Kontrahenten war es nicht darum gegangen, die eigenen Erkenntnisse zur Diskussion zu stellen und dabei auch von anderen zu lernen, womöglich den eigenen Standpunkt zu revidieren. Sie wollten vor allem möglichst viele Unbeteiligte von der eigenen Stichtweise überzeugen. (...) So ist der Historikerstreit Beispiel für das Fehlen einer Streitkultur in Deutschland, wo man nach wie vor lieber kämpft als debattiert."
(Seligmann, S. 271f.)
Bei dem Versuch ein Fazit zu ziehen, kann Folgendes festgehalten werden:
- Der geplante Völkermord an den Juden ist einzigartig in der Geschichte. Er darf aber deswegen nicht der vergleichenden Forschung mit ähnlichen Vorfällen entzogen werden. Dabei darf aber die Frage der Schuld nicht soweit relativiert werden, dass "die Deutschen" eigentlich nichts anderes taten als andere "Nationen" vorher und nachher auch. ("Die wirklichen Ursachen des Antisemitismus sind weder in Rußland noch beim jüdischen Weltkongreß zu finden." - Jürgen Kocka, "Historikerstreit", S. 136)
- Die These von Ernst Nolte, die Untaten der Bolschewisten wären die "Blaupause" der Nazi-Verbrechen gewesen, wurde widerlegt. Auch die quasi "gefühlte" Bedrohung durch den Bolschewismus rechtfertigt den Holocaust nicht als "Präventivmord". ("Was man uns suggerieren will, ist die These von einem Präventivmord." zit. nach: "Historikerstreit", S. 121)
- Beide Weltkriege des 20. Jahrhunderts resultierten nicht aus der geographischen "Mittellage" des Deutschen Reiches, waren also nicht tragisches, aber unvermeidbares Schicksal. ("Die Geographie ist weder Schicksal noch erklärt sie viel." - Jürgen Kocka, "Historikerstreit", S. 141)
- "Historizierung des Nationalsozialismus" vierzig Jahre nach seinem Ende geschieht nicht mit der Absicht, den Deutschen die Schamesröte über das, was in ihrem Namen geschah, aus dem Gesicht zu treiben. Für die Historiker muss der Anspruch gelten, "den Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte einzuordnen" (Martin Broszat zit. nach Fleischer, "Historikerstreit", S. 126).
- Politisch - so zeigte sich - hatte Jürgen Habermas das richtige Gespür gehabt. Alfred Dregger (damals Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag) brachte die "deutsch-nationale Natophilosophie" auf den Punkt, als er im Bundestag am 10. September 1986 erklärte: "Besorgt machen uns Geschichtslosigkeit und Rücksichtslosigkeit der eigenen Nation gegenüber: Ohne einen elementaren Patriotismus, der anderen Völkern selbstverständlich ist, wird unser Volk nicht überleben können. Wer die sogenannte (!) 'Vergangenheitsbewältigung', die gewiß notwendig war(!), mißbraucht, um unser Volk zukunftsunfähig zu machen, muß auf unseren Widerspruch stoßen." (zit. nach: "Historikerstreit", S. 194) Gegen solche Auffassungen, die auch von Michael Stürmer vertreten wurden, wandte sich auch der Historiker Wolfgang J. Mommsen mit der Mahnung, die "Harmonisierung des Geschichtsbildes gefährdet die Freiheit". (sein Beitrag vom Dezember 1986 bietet eine lesbare und gute Zusammenfassung der Debatte - "Historikerstreit", S. 300 - 321)
Der "Historikerstreit" aus aktueller Sicht
Aus heutiger Sicht liest sich vieles, was im "Historikerstreit" diskutiert wurde, als die Ouvertüre zu den Debatten um den Einsatz der deutschen Bundeswehr in Krisengebieten weltweit. Denn bei der "Zukunft des deutschen Volkes" ging es bereits damals um die Frage der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der notwendigen Konsequenz, für friedensstiftende und -bewahrende Maßnahmen überall in der Welt Soldaten zur Verfügung zu stellen.
Literatur
Weblinks