Geisteswissenschaften
Die Geisteswissenschaften sind der Inbegriff derjenigen Wissenschaften, die sich mit kulturell-geistigen Schöpfungen wie Wissenschaft, Kunst, Religion, Staat, Recht usw. befassen.
Der Begriff wurde 1849 als Lehnübersetzung von »moral science[s]« (John Stuart Mill) geprägt, bekam seine Prägnanz aber erst durch Dilthey. Dieser definierte sie in scharfer Entgegensetzumng zu den Naturwissenschaften durch die ihnen eigene Methode des Verstehens, wie sie als Hermeneutik seit Schleiermacher auch außerhalb der Philologie gebräuchlich geworden war.
Der Aufschwung der Naturwissenschaften seit Anfang des 19. Jahrhunderts war ja einhergegangen mit der Herausbildung neuartiger Disziplinen im Rahmen der alten Philosophischen (Artisten-) Fakultät, die sich durch rigorose Methodik auszeichneten (vgl. Stichweh); die alte Einheit, die es erlaubte, alles katalogmäßig -- wie in einer Bibliothek (Eco) -- nebeneinander zu stellen, war unwiederbringlich verloren. Damit war ein Großteil der alten Fächer infragegestellt. Das Konzept der Geisteswissenschaft half diesen, sich zu behaupten und durch methodischen Rigorismus zu modernisieren. So haben sich die alten Fakultätswissenschaften Theologie und Rechtswissenschaft erfolgreich als Geisteswissenschaften neudefiniert.
Eine ähnliche und parallellaufende Unterscheidung ist die zwischen nomothetischen, »regelsetzenden« und idiographischen. »beschreibenden« Wissenschaften, die manchmal dazu dient, die Sozialwissenschaften als nomothetisch abzugrenzen.
Einige Sonderfälle: die Mathematik ist weder Natur- noch Geisteswissenschaft, sondern eine Ausnahme (oder eine Kunst). Die Psychologie zählt in Deutschland zu den Naturwissenschaften, in den USA aber zu den Sozialwissenschaften.
alter Text Entgegen einigen (zu Klassifikationsproblemen führenden) Missverständnissen bezeichnet dabei der Ausdruck Geist nicht den individuellen Geist einer Person, sondern den sog. objektiven Geist im Sinne Hegels, der sich in überindividuellen (kollektiven) Phänomenen wie dem Recht oder dem Staat manifestiert.
In diesem Sinne ist die geläufige Einteilung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften nicht vollständig. Nicht jede Wissenschaft, die keine Naturwissenschaft ist, ist auch eine Geisteswissenschaft. Die Philosophie, die Mathematik, die Theologie oder die Rechtswissenschaft etwa gehören streng genommen zu keiner der beiden Gruppen. Auch die Abgrenzung zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften ist problematisch.
In bestimmter Hinsicht sind alle Wissenschaften Geisteswissenschaften; denn jede Wissenschaft ist und erfordert geistige Disziplin - so, wie in anderer Hinsicht alle Wissenschaften Naturwissenschaften sind; denn jeder mögliche Gegenstand von Wissenschaft steht zumindest mit Natur in Beziehung.
Zu den Geisteswissenschaften im engeren Sinn zählen u.a.:
- Archäologie
- Geschichte
- Klassische Altertumswissenschaft
- Kunstwissenschaft
- Musikwissenschaft
- Orientalistik
- Ostasienwissenschaften
- Erziehungswissenschaft (Pädagogik)
- Sportwissenschaft
- Sprach- und Literaturwissenschaft (Linguistik)
- Anglistik, Germanistik, Jiddistik, Romanistik, Sinologie, Slawistik u.a.
- Theaterwissenschaft
- Volkskunde
Literatur
- Florian Keisinger u.a. (Hrsg.): Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, Frankfurt am Main 2003.
- Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen : Physik in Deutschland ; 1740-1890. - Frankfurt a.M.1984
Andere Wissenschaftsgebiete:
- Naturwissenschaften
- Gesellschaftswissenschaften
- Ingenieurwissenschaften
- Formalwissenschaften wie die Mathematik oder Logik
- Strukturwissenschaften wie die Informatik