Franziska Gerstenberg
Im März 2004 stellte Franziska Gerstenberg bei einigen Dichterlesungen ihren ersten Erzählband "Wie viel Vögel" vor. Die 25-jährige Autorin errang mit dem im Februar in Leipzig erschienenen Debütband ein beachtliches Medienecho.Franziska Gerstenberg wurde 1979 in Dresden geboren und lebt in Leipzig und Hannover. Sie war Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und dann Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift EDIT. Ihrem Buch gehen kurze Werke in diversen Zeitschriften, einige Anthologien und mehrere Literaturpreise voraus.
In dem Band mit 15 Erzählungen gerät sie nicht wie neuerdings viele "Ossie"-Schriftsteller in die Gefahr der "Ostalgie" - wohl auch weil sie das Ende der DDR noch als Kind erlebte. Die FAZ von 24.3. meint, mit 10 sei man zu jung, um zu verstehen, was vor sich ging - aber alt genug, um es zu erahnen. Daher müsse F.G. den erlebten Ost-West-Unterschied nicht als ewige Bürde in die Zukunft schleppen.
"Wie viel Vögel"
bietet Momentaufnahmen aus dem Deutschland der Gegenwart, in dem diese Grenzen bereits in Vielem verwischt sind. Es sind Lebensausschnitte von Jugendlichen, die mit sich wenig anzufangen wissen. Absurde oder halb heitere Situationen entstehen, weil Manche bereits fast unentrinnbar in ihrem Mikrokosmos versponnen sind. Oder der magere Inhalt von Gesprächen kontrastiert mit Entscheidzungen, die sich gerade anbahnen.
So kulminiert etwa die Trennungsgeschichte eines Paares in jenen Minuten, während sie über die Fütterung eines Fischotter plaudern; oder eine junge Gruppe spielt "Tat und Wahrheit", ohne miteinander wirklich zu reden. Es sind offensichtlich keine biografischen Erlebnisse, sondern der gut gelungene Versuch, in die Haut verschiedenster Typen zu schlüpfen. Dennoch kann man sich nach fast jeder Geschichte fragen: na und?
Viele Leser und einige Kritiker finden das reizvoll oder als Ausdruck unserer sinnleeren Zeit. Andere fragen, ob das nur eine schlaue, aber sehr stilkundige Absicht ist - denn [Literatur]] (und wohl auch Menschen) hat Gerstenberg in Leipzig gründlich studiert. Wieder andere finden, dass ihr gerade der eigener Stil noch fehlt.
Das Literaturmagazin "Titel" schreibt unter "Unerträgliche Leichtigkeit des Jungseins" unter anderem: In Franziska Gerstenbergs Debüt wird wenig gehandelt und viel geredet - meist jedoch aneinander vorbei. Eine überwältigende Rezension fand der Band in der Zürcher Ende Februar:
Vielleicht sind die neuen deutschen Bundesländer doch nicht so heillos von der Ostalgie befallen, wie es im letzten «Merkur» diagnostiziert wird... zum Glück eine Generation, für die die Schrecken und Wonnen der DDR nicht mehr erstes Pflichtthema sind.
Die Alltagsmisere ins Bild gesetzt
Die meisten Figuren ''haben etwa dasselbe Alter wie die Autorin. Doch mitunter schlüpft sie gekonnt in eine andere Rolle, etwa in die des 14-jährigen Daniel, der über die Hecke hinweg die Ankunft der neuen Nachbarn im gemeinsamen Doppelhaus beobachtet. Diese haben einen italienischen Namen, kommen aber aus Wiesbaden, was in dem geographisch nicht näher bestimmten Kaff schon exotisch genug ist. Sie haben sogar einen Sohn, der nur wenig älter ist als der Ich-Erzähler, doch wird das kein rechter Spielgefährte. Der Neue heisst Anton, er sagt jedoch «Ich bin der Carlos, der Carlos Santana, der echte, der aus Mexiko!». Der Autismus des Knaben bringt die Familien einander näher, sie freunden sich an, in all ihrer kleinbürgerlichen Steifheit, die sowieso keine Zonengrenzen kennt.
Die Herkunft und der Wohnort dieser Figuren sind nie genau zu eruieren, denn in ihren sozialen Breiten ist die deutsche Wiedervereinigung perfekt gelungen, in der brüderlichen Verteilung der Lebensnöte. Überall zwischen Rhein und Oder könnte jener mickrige Wildpark sein, in dem eine junge Frau und ein Mann feiertags ihren Kummer spazieren führen. «Sie haben mir gestern gekündigt», sagt sie und meint, so «können wir doch jetzt ein Kind bekommen»... Gerstenberg hat die menschlichen Antennen und das sprachliche Zeug, um die Alltagsmisere literarisch in beeindruckende Bilder zu fassen, die kurz vor dem Abgrund zu stehen kommen.
Diese Erzählungen reiten nicht auf der Welle des Hauptstadtbooms und sind vom Prenzlauer Berg so weit entfernt wie von jeglichem modischen Schnickschnack. Sie handeln vom tagtäglichen Strampeln ... «Wir haben kein Auto, sagt Nina aus Bochum, und nach einer Weile fügt sie hinzu: Wir haben keinen Papa.» Das kleine Unglück ist grenzenlos gleich, von Aachen bis Zwickau.
Die erzählenden Gestalten sind zwar unkonventionell, tragen aber laut NZZ ihr neues Deutschland immer mit sich, auch wenn sie verreisen. Eine junge Frau kann beim Zirpen mediterraner Zikaden ihre Geliebte nicht vergessen, die nicht mitgekommen ist in die Ferien. Und in einem anderen Text ist ein junger Autostopper mit Herz und Kopf bei seinem daheim gebliebenen Freund, während er beim Camping freudlose Gesellschaft findet. Jener Frau werden die Hitze und die Zikaden zum Albtraum in der Fremde, unter «zwei Olivenbäumen, die eng umschlungen an einer staubigen Kreuzung stehen». Diesen Mann schaudert bei dem Gedanken, dass in demselben Zelt schon seine Eltern schliefen. «Auf Tramperurlauben durch Bulgarien und Rumänien, siebzig bis dreiundsiebzig, selbst wenn es wahr wäre, wäre es dreissig Jahre her.» Auch auf fremdem Terrain gelingen Franziska Gerstenberg leuchtende Bilder ... [F.Haas, 25.2.04]
Gott ist groß
In dieser Geschichten gipfelt der Kontrast zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe. Die Aushilfe einer Suppenküche erzählt von ihrer vergeblichen Hoffnung auf einen fixen Platz als Praktikantin. Da diskutieren gestrandete Zwanzigjährige, ob ein fester Wohnsitz zu bürgerlich sei, aber «sie wussten noch nicht, wie kalt und zugig im Herbst die Bushaltestellen wurden». Die junge Frau ... lädt (einen alten Sandler) ein, in die Suppenanstalt zu kommen, zu essen und die Kleider zu wechseln. Nur widerstrebend nimmt er die Barmherzigkeit an. Feierlich lobt er dann Gott und Jesus mitten im vulgären Getümmel der Elenden. Franziska Gerstenberg beschreibt das in einem fabelhaften Gleichgewicht zwischen moralischer Haltung und künstlerischer Gewandtheit .. im Misstrauen gegenüber der Elterngeneration, deren Atheismus «etwas beängstigend Religiöses» hat.Das Lebensproblem der jungen Generation
besteht quasi in der Leichtigkeit des Jungseins. Kirsten möchte etwas über ihre frühere Freundin Leonie erfahren und geht deshalb mit Mark schwimmen. Einem Paar wird in Holland das Auto aufgebrochen, während ihnen eine Hure zulächelt.Weblinks