Erfundenes Mittelalter
Die Theorie vom Erfundenen Mittelalter (auch: Phantomzeit-Theorie oder kurz PHZ) besagt, dass etwa 300 Jahre des europäischen Mittelalters von Geschichtsschreibern der ottonischen Zeit frei erfunden worden seien. Die Theorie, die von der Geschichtswissenschaft allgemein als unhaltbar abgelehnt wird, geht in ihrer in Deutschland verbreiteten Version auf die Autoren Hans-Ulrich Niemitz und Heribert Illig zurück. Sie nehmen für sich in Anspruch, mit der Entfernung der angeblich erfundenen Jahre die Chronologie des Mittelalters zu korrigieren.
Table of contents |
2 Indizien und Gegenindizien 3 Weitere Beobachtungen 4 Reaktion in der Öffentlichkeit 5 Literatur 6 Weblinks |
Grundlage der These ist Illigs Behauptung, dass es aus der Zeit zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert n. Chr. seiner Ansicht nach nur sehr wenige archäologischee Funde gebe, die zudem auch noch falsch datiert seien. Illig nennt diese Zeit auch Phantomzeit. In diese Zeit fällt auch das Leben und Wirken Karls des Großen. All die anderen Karolinger vor Karl III. dem Einfältigen hätten überhaupt nicht existiert und seien nachträglich im Interesse der katholischen Kirche im 11. Jahrhundert auf dem Papier erdacht worden, um Machtansprüche der Kirche (Investitur: z. B. die Krönung Karls des Großen durch den Papst) zu untermauern.
Die vielen heute noch erhaltenen Grundmauern ihrer Pfalzen – die sich u. a. unterhalb der vielen strategisch relevanten Burgen befinden – oder Königshöfe (wie z. B. in Kaiserswerth) seien geschichtlich falsch kategorisiert. Ebenso sei es mit Bauwerken in anderen Ländern, beispielsweise bzgl. der drittgrößten ehemaligen Moschee weltweit in Córdoba. Das Fränkische Reich nach Chlodwig sei ein gezieltes Produkt der Phantasie bzw. Täuschung. Illig argumentiert hauptsächlich mit angeblichen Entwicklungssprüngen bzw. verzögerten Entwicklungen in der Baukunst (u. a. am Beispiel der Aachener Pfalzkapelle), die nach seiner Darstellung einen lückenlos fließenden Übergang zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert bestätigt. Des Weiteren verweist er auf die Grenzverläufe der Herrschaftsstrukturen am Anfang und am Ende der "Phantomzeit", die trotz der bewegten Geschichte kaum Veränderungen aufweisen. Weiterhin soll es praktisch keine Textfunde der jüdischen Kultur aus dieser Zeit geben.
Nach Illig (Zeitensprünge 3/1993) beträgt die nachträglich eingefügte Zeit 296 Jahre. Als begründete Arbeitshypothese grenzt er den fraglichen Zeitraum sogar auf die Spanne September 614 bis August 911 ein.
Uwe Topper führte die Theorie weiter und machte weitere Angaben zu der möglicherweise fehlenden Zeit (ZS 3/1994). Danach betrage die übersprungene Zeit 297 Jahre – dem Jahr 614 der christlichen Zeitrechnung sei sofort das Jahr 911 gefolgt. Im Jahr 614 wurde die Stadt Jerusalem von den Persern erobert, sie war damit dem christlichen Byzanz verloren gegangen.
911 war tatsächlich für das Abendland ein wichtiges Jahr – in Deutschland starb der letzte Karolinger, und Konrad I wurde deutscher König. In Frankreich wurden die Normannen mit der Normandie belehnt. In Byzanz herrschte mit Konstantin Porphyrogennetos einer der wichtigsten Herrscher, unter dem eine glanzvolle Kulturblüte begann.
Als Begründung für seine These behauptete Topper, der Islam sei eine Nebenform des Arianismus – in der Tat wies der Arianismus einige wesentliche Glaubensinhalte auf, die auch für den frühen Islam typisch sind. Nach dem Konzil von Nizäa im Jahre 325, auf dem Arius verurteilt worden war, habe sein Anhänger Mohammed aus Mekka fliehen müssen und damit den Beginn der islamischen Hedschra-Zeitrechnung ausgelöst. Nach der landläufigen Geschichtsschreibung liegt dieser Zeitpunkt im Jahr 622. Zwischen 325 und 622 liegen 297 Jahre.
Nach Topper versuchten die Christen, als der Islam sich über weite Teile des Orients ausgebreitet hatte, dessen Zusammenhang mit dem Christentum zu vertuschen, und legten deshalb dessen Entstehung in eine spätere Zeit. Bei den (arianischen) Goten war als Zeitrechnung die Era in Gebrauch, die mit der Einführung des Julianischen Kalenders im Jahr 44 v. Chr begonnen haben soll. Die Christen legten nun angeblich Mohammeds Flucht auf das Jahr 666 der Era (666 = Zahl des Antichrist), was dem Jahr 622 n. Chr. entsprochen hätte.
Nach landläufiger Geschichtsschreibung geht die Era aber auf ein unbekanntes Ereignis im Jahre 38 v. Chr zurück, sie hat also wahrscheinlich weder mit dem Arianismus zu tun, noch gibt es den Zusammenhang mit der Zahl des Antichrist. Den Unterschied zwischen 38 und 44 v. Chr. erklärt Topper damit, dass das Geburtsjahr Jesu nicht genau bekannt sei und er möglicherweise ein paar Jahre vor dem Beginn der Zeitrechnung geboren wurde (was wahrscheinlich auch der Fall war).
Uwe Topper war eine Weile von der Theorie Illigs begeistert und lieferte zusätzliche Argumente zur Unterstützung der These, die hauptsächlich von Illig propagiert wurde. Er veröffentlichte über seine Erkenntnisse auch ein Buch mit dem Titel Erfundene Geschichte.
Bald aber gelangte er zu der Auffassung, dass die Phantomzeitthese alleine nicht alle historischen Unregelmäßigkeiten beseitigen könne, und wandte sich in Richtung einer viel radikaleren Position: Die ganze Geschichte der sesshaften Zivilisation spielt sich in den letzten ca. 1000 Jahren ab. Das Römische Reich, wie wir es uns vorstellen, habe in dieser Form nicht existiert, sondern sei ein loser Militärverband germanischer und keltischer Stämme gewesen. Die Vormachtstellung Roms – das bis ins 15. Jahrhundert unbedeutend gewesen sei – sei eine Erfindung der Renaissance. Ähnlich soll es mit anderen antiken Reichen gewesen sein – die Pyramiden von Gizeh etwa werden von den Anhängern dieser These in die frühosmanische Zeit eingeordnet.
Auch die außereuropäische Geschichte ist nach Topper eine Erfindung. Die chinesische Chronologie sei nach den Chroniken Europas aufgestellt worden, die von christlichen Missionaren im 16. Jahrhundert nach China gebracht worden seien.
Prof. Dr. Fomenko ist Leiter des Projekts Neue Chronologie an der Lomonossow-Universität in Moskau. Er behauptet, über Widersprüche in der Astrophysik zwischen berechneten Vorhersagen – speziell der Mondbewegung – und dem berichteten Datum des Erscheinens zur Theorie einer falschen offiziellen Zeitrechnung gekommen zu sein: Die christliche Zeitrechnung läge um 1000 Jahre über dem "reellen" Datum.
Zur physikalischen Begründung stellt er eine historische. Die von Person zu Person zunehmende Ausschmückung von Berichten führe zur Vervielfachung von einzelnen Herrschern oder Ereignissen in der Geschichtsschreibung.
Fomenko hat einen Algorithmus zur Wahrscheinlichkeitsberechnung einer solchen Vermehrung entwickelt.
Für den fraglichen Zeitraum existieren zehntausende von Dokumenten (Grundstückgeschenke an die Klöster, Testamente usw.) mit exaktem Datum und Unterschrift sowie Grabmäler oder Bauwerke mit datierten Inschriften aus allen Ländern Europas, insbesondere aber unzählbare geprägte Münzen, die das Gegenteil beweisen. Zahllose Mosaiken in den alten italienischen Kirchen stammen nachweislich aus dieser Zeit. Aber vor allen Dingen hat man es den Mönchen des 7 und 8. Jahrhunderts zu verdanken, dass die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit in noch heute erhaltenen handschriftlichen Dokumenten aufgeschrieben wurden. Denn nicht nur die bedeutenden Gelehrten des frühen Mittelalters wie beispielsweise Beda Venerabilis, Einhard, Alkuin usw. hielten die geschichtlichen Zusammenhänge in ihren Werken fest. Diese schriftlichen Fakten werden durch archäologische Befunde und Ausgrabungen des 7. bis 9. Jahrhunderts ergänzt (Schmuck, Waffen usw.). Die diversen Fundstücke und andere Daten werden von den Historischen Hilfswissenschaften analysiert und dienen als Basis für weitere wissenschaftliche Arbeiten, von der Datierung bis hin zur Erstellung von Zeittafeln. Beispielsweise durch die Dendrochronologie kann die genaue Entstehungs- und Bauzeit eines Wikingerschiffes geklärt werden, welches nach Ansicht oben genannter Personen überhaupt nicht existieren darf. Deshalb wird in der Fachwelt wie auch in der Allgemeinheit die Theorie vom Erfundenen Mittelalter meist belächelt.
Zwar werden auch innerhalb der Fachwissenschaften immer wieder einige Dokumente in ihrer scheinbaren Datierung zu Recht angezweifelt (Urkundenfälschungen zur nachträglichen Legitimation von Grundbesitzansprüchen etc. waren im Mittelalter nicht unüblich). Doch ist der weitaus größte Teil der Dokumente offenbar authentisch; in der ehemaligen Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen findet sich der größte Bestand an Originalurkunden aus dem Frühmittelalter nördlich der Alpen - allein aus dem 9. Jahrhundert sind hier nachweisbar fast 600 Urkunden erhalten. " class="external">http://www.oeaw.ac.at/gema/fm_details.htm-->
Die analysierten Fundstücke des 7. bis 9. Jahrhunderts als Ergebnisse mehrjähriger Forschungsarbeit werden in vielen Museen ausgestellt, z. B. finden sich allein in Köln mehrere Dutzend. In ganz Europa liegt ein sehr große Anzahl (evtl. über 100.000) von Fundstücken vor. Auch die Knochen damals lebender Menschen wie die des heiligen Suitbert oder des Liudger könnten heute noch wissenschaftlich untersucht werden.
Die Fraglichkeit der Illigschen Thesen wird noch zusätzlich verstärkt durch Erkenntnisse auf benachbarten Disziplinen als der "echten" mittelalterlichen Geschichte. Denn nicht nur Urkunden sprechen, sondern auch literarische Werke, die allesamt in einen historischen Kontext einzuordnen sind. Wenn auch die bösartige und absichtliche Verunechtlichung von Urkunden vorausgesetzt wird, so kann dies auf gar keinen Fall für alle Schriftquellen oder gar Bildquellen angenommen werden. Denn der begrenzte Mitwisserkreis, den Illig annimmt, kann für dieses Szenario nicht mehr aufrechterhalten werden. Was nützte also eine Geschichtsfälschung, wenn doch alle Menschen darin verwickelt sein mussten? Der Entkräftung der Idee vom "erfundenen Mittelalter" hilft auch die Sprachgeschichte. Denn dort sind Sprachwandel- und -tauschparallelen quer durch Europa feststellbar, nicht nur auf den lateinischen Westen beschränkt, sondern auch auf den Bereich des slawischen Mittelost- und Osteuropa. Die Sprachgeschichte kann bei den europäischen Sprachen Wortübernahmen feststellen, dort existieren nirgends Lücken oder Zeiten der Ruhe und Stabilität.
Illig erklärt leider seine Theorien zu Dogmen verallgemeinert auf eine Art, die ihm nicht zu unrecht den Namen "Däniken der Geschichtswissenschaft" eingebracht hat.
Arbeitsmethodisch sind seine Werke bestenfalls als kritisch einzustufen. Zitate werden aus dem Kontext der Historiker gerissen, in Halbsätzen zitiert - in den meisten Fällen zitiert Illig jedoch sowieso sich selber.
Die bereits genannten Indizien, die gegen die Theorie vom Erfundenen Mittelalter sprechen, werden durch die Anhänger der Theorie wie folgt zu widerlegen versucht:
Als indirekte Bestätigung sehen die Anhänger der Theorie:
Der konventionellen Chronologie zufolge wäre eine Vielzahl von Hypothesen erforderlich, um den eigentümlichen Verlauf von rekonstruierten Variablen zu erklären, die das Frühmittelalter überspannen. Als Beispiele solcher Variablen seien genannt:
Das Interesse an der Chronologiekritik im Allgemeinen, sowie an Illigs These mag auch darin begründet sein, dass das Postulieren einer Phantomzeit für viele Leser eine bestehende Lücke in ihrer zeitlichen Vorstellung der Geschichte Europas füllt - im Geschichtsunterricht der heutigen "aufgeklärten" Zeit werden solche Zeiten, die nach heutiger Ansicht nichts zur Aufklärung beitrugen, kaum behandelt.
Ein weiterer Grund für den Medienerfolg Illigs mag die prinzipielle Neigung der Öffentlichkeit sein, Außenseitern ihr Ohr zu leihen, deren Thesen vom institutionellen akademischen Wissenschaftsbetrieb übergangen werden.
Illig bietet eine vermeintlich einfache Erklärung für komplizierte historische Materie an. Wegen seines populärwissenschaftlichen Ansatzes, den er außerhalb der wissenschaftlichen Veröffentlichungswege ohne fachwissenschaftliche Diskussion (Peer-Review) vermarktet, wird er von seinen Gegnern in die Nähe von Autoren wie z.B. Erich von Däniken gerückt.
Die Theorien
Heribert Illig
Uwe Topper
Toppers ursprüngliche Theorie
Toppers erweiterte Theorie
Anatolij Timofejewitsch Fomenko
Indizien und Gegenindizien
Gegenindizien
Erwiderungen auf die Gegenindizien
Weitere Beobachtungen
Ein weiterer Diskussionspunkt findet sich in der Kalenderreform Gregors XIII, der 1582 den Gregorianischen Kalender einführte. Den 1600 Jahre alten Julianischen Kalender veränderte er dahingehend, dass die vollen Jahrhunderte wie 1700, 1800 und 1900 keine Schaltjahre mehr sind – außer wenn sie durch 400 teilbar sind, wie 1600 oder 2000. Da der Julianische Kalender 44 v. Chr eingeführt worden war, hätte man seitdem 13 Tage zu viel gezählt haben müssen. Nach der Enzyklika Inter Gravissimas ("..vernum aequinoctium quod a patribus Concilii Nicaeni ad xii.
Kalend Aprilis fuit constitutum") Papst Gregors wurden aber nur zehn Tage aus dem Kalender gestrichen. Der Papst nahm also wahrscheinlich nicht Cäsars Kalenderreform, sondern das Erste Konzil von Nicäa (325) als Ausgangspunkt, bei dem der Ostertermin festgelegt wurde. Gregors Kalenderkorrektur hätte demnach die seit dem Konzil aufgelaufenen Berechnungsfehler des Ostertermins abgefangen.
Welches der beiden Ereignisse Gregor nun aber als tatsächlichen Ausgangspunkt für seine Kalenderreform nahm, gilt zwischen Gegnern und Anhängern der These nach wie vor als Streitpunkt: Die Anhänger der These unterstellen Papst Gregor die Wiederherstellung der Verhältnisse zur Zeit Cäsars; die Gegner der These verweisen auf die Absicht des Papstes, den korrekten Termin des höchsten Kirchenfestes einzuhalten.Reaktion in der Öffentlichkeit
siehe auch Verschwörungstheorie, Chronik, Geschichtswissenschaft, Geschichtsphilosophie, Oral history, Quellenkritik und Virtuelle GeschichteLiteratur
Weblinks
Erwiderungen auf die Thesen: