Enver Pascha
Enver Pascha, geboren als İsmail Enver, (* 22. November 1881; † 4. August 1922) war Politiker, General und Kriegsminister des Osmanischen Reichs und jungtürkischer Nationalist.İsmail Enver wurde als Kind eines einfachen türkischen Eisenbahnarbeiters in Konstantinopel geboren und wuchs in proletarischen Verhältnissen auf. Sein Vater achtete auf eine sehr gute schulische Erziehung und İsmail erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen über alle Maßen. Während seiner Schüler- und Studentenzeit kam er mit bürgerlich-revolutionären Ideen in Berührung und nahm 1897 als Mitglied der jungtürkischen Bewegung an den gescheiterten Studentenprotesten gegen die reaktionäre Regierung unter Sultan Abdülhamid II teil. Nach diesem politischen Rückschlag gewannen die intellektuell geprägten Jungtürken um die Jahrhundertwende zunehmend Einfluss auf das türkische Offizierscorps. İsmail begann seine Militärlaufbahn und stieg neben Cemal, Talaat und Gökalp in den Führungszirkel des Komitees für Einheit und Fortschritt auf. In der 1908 von seiner Garnison in Thessaloniki ausgehenden Jungtürkischen Revolution übernahm er die führende Rolle. Am 24. Juli 1908 musste Abdülhamid II. die liberale Verfassung des Großwesirs Midhat Pascha von 1876 wieder in Kraft setzen, die Zensur aufheben, eine Amnestie erlassen und reaktionäre Regierungsmitglieder entlassen. Gegen die Machtübernahme der Jungtürken unternahmen reaktionäre Kräfte am 13. April 1909 einen Putschversuch, den revolutionäre Truppen nach drei Tagen niederschlugen. Danach entthronten die Jungtürken unter Enver, Cemal, Talaat und Gökalp Sultan Abdülhamid II. und ersetzten ihn durch Mehmed V, der Verfassungstreue schwor. Nach der Jungtürkischen Revolution wurde İsmail Enver der Ehrentitel "Pascha" verliehen, unter dem er heute als "Enver Pascha" bekannt ist.
Der junge aufstrebende Enver Pascha, der eine osmanische Prinzessin geheiratet hatte, setzte sich in der jungtürkischen Regierung für ein Militärbündnis mit dem Deutschen Kaiserreich ein. Mit Hilfe preußischer Militärberater und modernen deutschen Waffen wollte er das osmanische Militärwesen reformieren, um drohenden Angriffen durch Italien in der Cyrenaika und im Dodekanes und britischen Expansionsgelüsten nach Palästina, Syrien, Arabien und Mesopotamien begegnen zu können. Von 1909 bis 1911 ging Enver Pascha als Militärattaché nach Berlin. Dort entwickelte er maßgeblich die engen deutsch-türkischen Bündnisbeziehungen vor dem 1. Weltkrieg und sorgte persönlich dafür, dass preußische Offiziere höchste Funktionen in der türkischen Armee einnahmen. Diese Militärpolitik vergiftete die Beziehungen zur Weltmacht Großbritannien, die durch die Konzession an die Deutsche Bank zum Bau der Bagdadbahn schon länger belastet waren.
Anlässlich des italienisch-türkischen Kriegss verließ Enver Pascha 1911 Berlin, konnte jedoch als türkischer Oberbefehlshaber den Verlust Libyens nicht verhindern. Mit den Niederlagen in Nordafrika und im Dodekanes, der politischen Verfolgung oppositioneller Kräfte im Inland und Gewaltakten gegen Bürger, die nicht türkischer Nationalität waren, verspielten die Jungtürken für kurze Zeit ihre politische Macht und wurden im Juli 1912 von der probritischen Kompradorenpartei Freiheit und Einheit gestürzt. Aber schon im Januar 1913 wurde Großwesir Sevket Pascha Opfer eines Attentats. In einem blutigen Putsch kam Enver Pascha wieder an die Macht und regierte danach im Triumvirat mit Talaat und Cemal mit nahezu diktatorischen Vollmachten.
Als Kriegsminister führte Enver Pascha das Osmanische Reich 1913 in den 2. Balkankrieg und erwirkte 1914 das Zusammengehen mit Deutschland und Österreich-Ungarn im 1. Weltkrieg. Bis Kriegsende leitete er die türkischen Militäroperationen als Vizegeneralissimus und agierte dabei zusammen mit Innenminister Talaat glücklos. Als die ersten Initiativen an der Kaukasusfront im Winter 1914/15 mit einem Debakel endeten und die russische Armee - auf die Sympathie der armenischen Bevölkerung zählend - die Gegenoffensive im Osten eröffnete, geriet das jungtürkische Regime in eine prekäre Lage. Am Vorabend der Landung der Entente-Truppen auf den Dardanellen, die am 25. April 1915 begann, entschloss sich Talaat mit nachträglicher Rückendeckung durch Enver zu durchgreifenden Maßnahmen gegen die Armenier. Der Genozid an über 1 Mio. Armeniern, die der Kollaboration mit dem russischen Kriegsgegner beschuldigt wurden, und der Terror gegen Kurden, Griechen, Libanesen und andere nationale Minderheiten zerstörte den inneren Zusammenhalt des Vielvölkerstaates restlos. Die rigorose Kriegführung Envers im nahen Osten machte alle Araber zu ebenso entschiedenen wie rücksichtslosen Gegnern des Osmanischen Reichs. In Mittelasien schürte Enver Pascha 1916 im Zusammenhang mit dem Aufstand der Basmatschi gegen die Zarenherrschaft pantürkische Träume, was zu einer Vertrauenskrise in der preußischen Heeresführung führte. Trotz des besonderen türkischen Engagements änderte sich die Lage im Osten erst, nachdem die russische Kaukasusarmee sich infolge der Oktoberrevolution 1917 aufgelöst hatte. Auf Grund des Friedensvertrags von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 konnten die Jungtürken nunmehr die Heimkehr der 1878 an Russland abgetretenen Distrikte Kars, Ardahan und Batumi feiern. Im Juni 1918 ließ Enver Pascha eine "Islamische Armee" im Kaukasus aufstellen um Baku am Kaspischen Meer zu "befreien". Kurz nach der Eroberung Bakus brach jedoch die Front in Palästina zusammen, und der 1. Weltkrieg war für das Osmanische Reich verloren. Wegen dieser gravierenden Fehler und seiner konservativen Einstellung hatte sich Enver Pascha bis zum Ende des Krieges jene Jungtürken zu Feinden gemacht, die einen säkularisierten, republikanischen Staat wollten und in der absehbaren Niederlage nach Wegen zu einem friedlichen Ausgleich mit den westeuropäischen Siegermächten und dem jungen Sowjetrussland suchten. Nach Unterzeichnung des Waffenstillstands in Mudros am 30. Oktober 1918 mussten Enver, Talaat und Cemal aus Konstantinopel fliehen, um der Verhaftung und Verurteilung durch die Jungtürken unter ihrem neuen Führer Mustafa Kemal zu entgehen.
Enver fand zusammen mit Talaat für einige Zeit Unterschlupf in Berlin. Dort wohnte er inkognito in Neubabelsberg bei dem befreundeten Kunsthistoriker Friedrich Sarre, der Direktor des Berliner Vorderasiatischen Museums war. 1919 versuchte Enver Pascha Kontakte deutscher Militärs zur sowjetrussischen Führung zu nutzen, um den Krieg in Mittelasien gegen Großbritannien fortzusetzen. Dazu wollte er die Reste seiner "Islamischen Armee" mit Einheiten der Roten Armee vereinigen. Er ging von der Fehleinschätzung aus, die Sowjetmacht würde sich im Kampf gegen den britischen Imperialismus, der die Ölfelder um Baku ins Auge gefasst hatte, auch türkisch-islamischer Kräfte bedienen. Seine tollkühnen Missionen per Flugzeug ins sowjetische Feindesland hatten jedoch keinen Erfolg. So schlug er sich 1920 nach Buchara durch und nahm Verbindung mit Führern der Basmatschi auf. Unter ihnen suchte er Anhänger für seine pantürkische Idee zu gewinnen und agitierte für die Bildung eines neuen Kalifats.
Wegen der kriegsbedingten und revolutionären Wirren schien Enver Pascha die Zeit günstig, die islamischen, turkstämmigen Völker Mittelasiens in einem eigenen Staatswesen zu vereinigen. Dabei hatte er es nicht nur auf die gerade der Zarenherrschaft entronnenen Aserbaidschaner, Turkmenen und Usbeken abgesehen, sondern rechnete auch mit der Unterstützung der Uiguren in Nordwestchina und turkstämmiger Nationalisten in Afghanistan und Persien. Als Kommandeur der Basmatschi kämpfte er für das Ziel ein Kalifat mit Sitz in Samarkand zu errichten. Der von der Geistlichkeit, dem Bürgertum und der reichen Oberschicht Bucharas, Ferghanas und des ehemaligen Khanats von Chiwa getragene Unabhängigkeitskampf wurde von der Roten Armee blutig beendet. Am 4. August 1922 fielen Enver Pascha und die meisten seiner Kämpfer in einem erbitterten Gefecht mit sowjetischen Truppen bei Baldschuan, nahe der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe.