Cartesianismus
Der Cartesianismus bezeichnet die Lehre von Rene Descartes und ihre Weiterführung im 17 und 18. Jahrhundert.
Das Weltbild Descartes' basiert auf der Überzeugung von der Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Dieser Glaube drückt sich in der Ansicht von Nicolas de Malebranche, Spinoza und Leibniz aus, dass Gottes Willen einer ewigen, souveränen Vernunft gehorcht, nicht auf irrationale Weise frei ist (die entgegengesetzte Position vertritt in der Diskussion mit Leibniz der newtonianische Empirist Samuel Clarke). Der Cartesianismus lebt in dieser Hinsicht in der Überlieferung der antiken (teilweise christlichen) Logos-Lehre.
Vor allem aber gewinnt Descartes seinen Glauben an die Vernünftigkeit der Wirklichkeit aus der in der Renaissance herausgebildeten mathematischen Weltansicht. Diese zeigt sich ihm ursprünglich unter einem ästhetischen Aspekt: als Harmonie der sinnlichen und geistigen Sphären, als Kunst:
Dieser naturphilosophischen Stimmung entsprechend erscheint Descartes anfangs die Dichtung gedankenreicher als die Philosophie:
Zu den Kriterien des Weltbildes bei Descartes
"Es gibt nur eine lebendige Kraft in den Dingen, das ist die Liebe, das Mitgefühl und die Harmonie.
Vortrefflich eignen sich die sinnlichen Dinge zur Erkenntnis der übersinnlichen: die Luft kennzeichnet
den Geist, die dauernde Bewegung das Leben, das Licht die Erkenntnis, die Wärme die Liebe,
die sichtbare Tätigkeit die Schöpfung. Alle körperlichen Formen stehen in harmonischer
Wechselwirkung miteinander. Es gibt mehr Kaltes als Trockenes, mehr Feuchtes als Warmes.
Wäre es anders, so hätten die aktiven Elemente zu schnell die Oberhand gewonnen und
die Welt würde keinen langen Bestand haben."--
Zur Einschätzung der Dichtung zur Philosophie bei Descartes
"Der Grund ist, weil die Dichter schreiben erregt durch das Feuer der Begeisterung und der
Einbildungskraft. In unserem Inneren sind die Keime der Wissenschaft enthalten, gleichsam
wie die Funken im Feuerstein. Die Philosophen ziehen sie heraus durch ihr Räsonnement,
dagegen die Dichter bringen sie zum Leuchten durch ihre Phantasie, und da erstrahlen sie
in einem weit helleren Glanze."
Zur Bedeutung der Mathematik in der Erkenntnis bei Descartes
Mit Kepler, Galileo Galilei und Leibniz stimmt er in dem Grundgedanken überein, dass den elementarsten Wirkugen des Schönen einfache mathematische Relationen zugrunde liegen. Zuerst erkennt er die Bedeutung einer mathematischen Grundlage für die wissenschaftliche Fundierung der Musiktheorie (1618). Das volle Bewusstsein über die umfassende Bedeutung einer mathematischen Grundlage für die gesamte Naturwissenschaft, ja für die Wissenschaft überhaupt, erlangt Descartes 1619. Seine Absicht ist nicht, die Wissenschaften auf die Mathematik zu reduzieren, sondern sie auf das Niveau der Mathematik zu erheben. Diese dient ihm nur als Mittel, eine Methode für die "vernünftige" (rationale), absolut gewisse, zweifelsfreie Erkenntnis zu gewinnen.
Infolge dieser methodischen Eignung gilt sie ihm als Musterwissenschaft, deren einfachsten Strukturelementen Allgemeingültigkeit zukommen soll. So wie sie von einfachen, jedermann einleuchtenden (evidenten) Tatsachen ausgeht, um dann durch Schlussfolgerungen immer tiefer in das Wesen der Raum- und Zahlbeziehungen einzudringen, so soll auch die Methode verfahren, die sich auf die Wissenschaften in ihrer Gesamtheit bezieht. Die einfachsten Elemente, mit denen sie operiert, sind unmittelbare Einsicht (Intuition) und Deduktion. Unter Intuition versteht Descartes nicht die ungeklärte Sinneswahrnehmung oder das täuschende Erzeugnis der Einbildungskraft, sondern die absolut unbezweifelbare, klare und deutliche Vernunfterkenntnis. So könne ein jeder intuititiv erkennen, dass er existiert, dass er denkt, dass ein Dreieck von drei Linien begrenzt wird u.a.
Sie gibt dem Menschen die ursprünglichen, elementaren Wahrheiten. Mit Hilfe der Deduktion kann der Mensch von den Grundtatsachen zu immmer höheren aufsteigen. Die elementaren Axiome der Mathematik, wie z.B. die Voraussetzung, dass sich parallele Linien niemals schneiden können, bieten dem Menschen noch kein eigentliches belangreiches Wissen dar. Von dergleichen Prinzipien kann man aber durch Schlussfolgerungen aufsteigen zu Wahrheiten, die durchaus nicht von vornherein selbstverständlich erscheinen, wie sie zu dem Satz, dass im Dreieck der Ebene die Winkelsumme 180 Grad beträgt, dass die Kugeloberfläche viermal so groß ist wie der größte Grundkreis der Kugel u.a.
Mittels der intuitiv-deduktiven Methode will Descartes ein ganzes System der Wissenschaften auf der Grundlage gänzlich unbestreitbarer, d.h. "vernünftiger" Prinzipien konstruieren. Sein rationalistischer Glaube erweist sich dabei als sehr zwiespältig: einerseits als wissenschaftsfreundlich, andererseits als wissenschaftsfeindlich, als fortschrittsoffen und dogmatisch. Als fruchtbar zeigt es sich, insofern die Wissenschaften gezwungen werden, dem Verstehen den Vorrang vor der Tatsache zu geben, nichts als wahr anzunehmen, bevor es nicht klar und deutlich, intuitiv oder in deduktiver Verkettung erkannt wurde. Als unfruchtbar, weil es um seines dogmatisch zweifelsfeindlichen, feststehenden (metaphysischen) Inhalts willen die Wissenschaften zur Umdeutung der Tatsachen veranlasst. Dieser zwiespältige Charakter kennzeichnet die ganze cartesische Philosophie und ist mehr oder weniger die Grundlage ihres Dualismus.
Infolge des dualistischen Charakters seiner Philosophie bestimmt Descartes die Seele im Gegensatz zum Körper als unausgedehnt und unvergänglich. Da er sie nur als Bewusstsein versteht, ergibt sich als Konsequenz, dass sie stets bewusst sein muss, wenn man nicht annehmen will, dass sie bei Ohnmachtsanfällen und traumlosen Schlaf völlig verschwindet. Obwohl sie unräumlich ist, schreibt Descartes ihr einen Aufenthaltsort in der Mitte des Gehirns, in der Zirbeldrüse (Epiphyse), zu, von wo sie dank der Nervenröhren befindlichen "Lebensgeister" (spiritus animales) Impulse vom Körper empfängt und an ihn erteilt.
Die Geschichte des Cartesianismus lässt sich vor allem auf den Gebieten der Philosophie (auch der Theologie) und Naturwissenschaft verfolgen. Die neue Lehre beginnt ihren Siegeszug in Holland (etwa ab 1640). Hier sind zu nennen: Henricus Regius, der die über La Mettrie zu Pierre Jean Georges Cabanis führende Rolle cartesianischer Physiologen eröffnet, Johann Clauberg und Balthasar Bekker, der in seinem Hauptwerk "De betoverde weereld" (Die bezauberte Welt) gegen Dämonenglauben und Hexenwahn kämpft und sich vom cartesischen Standpunkt aus mit der natürlichen Bibelauslegung befasst.
In Frankreich wird von Jacques Rohault, dem Verfasser einer noch für das 18. Jahrhundert als Lehrbuch der cartesianischen Mechanik geltenden "Physik" (1671), zu propagandistischen Zwecken einer Art Descartes-Gesellschaft mit Vorträgen und physikalischen Darbietungen gegründet. Sein Schüler, Pierre Sylvain Régis, wirbt seit der Mitte der sechziger Jahre mit sehr großem Erfolg in Südfrankreich für die cartesianischen Ideen. In den siebziger Jahren wird der Cartesianismus in Frankreich auf Betreiben der Jesuiten verboten. Aber die Naturwissenschaft ist um 1700 von ihm allgemein durchdrungen. Eine gewaltige Popularisierung erfährt er durch Bernard le Bovier de Fontenelles Gespräche über die Vielzahl der Welten (1686). Dieser Patriarch der französischen Aufklärung macht die Pariser Akademie der Wissenschaften zu einer Hochburg der cartesianischen Naturwissenschaften.
Einen gewaltigen Nachhall findet die Lehre Descartes' bei den jansenitischen Theologen des Klosters Port-Royal: ihre berühmtesten Vertreter, Antoine Arnauld (1612-1694) und Pierre Nicole (1625-1695), geben 1662 eine Logik oder Denkkunst heraus, in der die methodische Seite des Cartesianismus ihre beste Darstellung findet. Auch unter den Mitgliedern des Oratoriums, dessen Gründer, der Kardinal Pierre Bérulle, mit Descartes befreundet ist, gewinnt die neue Lehre viele Anhänger (Guillaume Gibieuf, Malebranche 1638-1715). Gemeinsame augustinische Voraussetzungen haben bei der Aufnahme in Port-Royal und im Oratorium eine gewisse Rolle gespielt.
Die rationalistischen Systeme des 17. Jahrhunderts (Henricus Régius, Tomas Hobbes, Spinoza, Malebranche, Leibniz) gehen sämtlich von Descartes aus, ohne bei ihm stehenzubleiben. Vor allem die dualistische Antwort auf die Wechselwirkung von Körper und Geist ist in ihnen stärker, mehr in materialistischer oder idealistischer Richtung gehend, behandelt. Vom Okkasionalismus (Arnold Geulincx 1625 - 1669) wird versucht, den Dualismus durch die Behauptung aufrechtzuerhalten, nicht das Materielle, sondern Gott setze das Denken in Bewegung, wobei die materielle Bewegung lediglich Anlass, nicht Ursache sei. Malebranche kommt auf Grund der dualistischen These auf den Einfall, die Tätigkeit des Denkens als Wirken Gottes zu erklären, wodurch er Gott und Denken pantheistisch annähert und sich dem Vorwurf des Spinozismus aussetzt.
Leibniz will das Wunder einer Parallelität von körperlichem und geistigem Tun aus einer von Gottes Vorsehung für alle Zeiten festgelegten " prästabilierten Harmonie" ableiten. Er bedient sich daher des bereits von Geulincx angewandten Gleichnisse von zwei Uhren, die nicht auf Grund einer gegenseitigen kausalen Abhängigkeit, sondern nur dank der Kunst ihres Schöpfers den gleichen Gang haben, zur gleichen Zeit schlagen und die Stunde angeben.
Die französische Aufklärung, deren philosophisch-erkenntnistheoretische Grundlage mehr oder weniger sensualistisch ist, widerspricht im wesentlichen dem Cartesianismus. Sie lässt als höchste Instanz nur die Erfahrung und den Wandel der Erfahrung gelten, erkent keine ewig gültigfen Wahrheiten, kein nur aus dem Denken (rationalistisch) gewonnenes, systematisches, dogmatisches, metaphysisches Wissen an. Was sie von Descartes annimmt, sind daher nur bestimmte Teile seiner Lehre, die sie außerdem in ihrem Sinne umdeutet: die Methode, d.h. die Lehre vom Zweifel und vom klaren und deutlichen Erkennen, und gewisse naturwissenschaftliche, nämlich mechanistische Impulse. Der Zweifel wird von ihr nicht als propädeutsiches Mittel für die Gewinnung zweifelsfreier, unerschütterlicher Gewissheit angesehen, sondern als Instrument der Kritik und wesentliche Bedingung des Erfahrungswissens.
Unter klarem und deutlichem Erkennen versteht sie nicht die rationale Wesenserkenntnis, sondern die empirische Einsicht in die Erfahrungswelt. Die mechanistischen Anstöße Descartes' auf naturwissenschaftlichem Gebiet wirken sich in der Aufklärung vorwiegend im Sinne der deistischen oder materialistischen Erklärung organischer Erscheinungen aus Materie und Bewegung aus - wobei Cartesianismus mit Epikurismus oder Atomismus zusammenfällt. Die Darstellung der Lebewesen als Mechanismen ("Maschinen") bedeutet hier vor allem ein Protest gegen die aristotelische (vegetative, animalische, rationale Seele) und epikureische, stoische, platonische (Geistmaterie, Weltseele) Erklärungsprinzipien''.
Angesichts der nahezu allgemeinen Ablehnung des Automatismus, der Lehre von der Unbeseeltheit der lebendigen Körper, behalten die epikureischen (Gassendismus), platonischen (Ralph Cudworth' Wendung zum Vitalismus) und aristotelischen (Leibniz' Monadenlehre) Hypothesen jedoch noch eine gewisse Geltung, vermögen aber nicht, die französischen Aufklärer von ihrem grundsätzlichen Erfahrungsstandpunkt abzubringen. In den Naturwissenschaften setzt sich unter starkem englischem Einfluss (Robert Boyle, Isaac Newton) die empiristische Betrachtungsweise durch (seit dem zweiten Jahrzehnt in den Niederlanden, seit dem vierten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts in Frankreich).
Während die katholische Kirche im 17. Jahrhundert den Cartesianismus bekämpft, nimmt sie ihn im 18. Jahrhundert in sich auf. Die Ursache dafür dürfte sowohl darin liegen, dass die Naturwissenschaft aus der bisherigen Philosophie der Kirche, dem Aristotelismus, herausgefallen, selbständig geworden ist und die Kirche sich nunmehr einer wirklichkeitsfremden, spiritualistischeren Philosophie bedienen muss, als auch daran, dass auch die Theologie sich allmählich von der aristotelischen Scholastik abkehrt und anderen Richtungen zuwendet (protestantischer Einfluss). Dabei wird natürlich vorwiegend auf den metaphysischen Teil des Cartesianismus Wert gelegt: auf die Lehre von der geistigen, unsterblichen Substanz des Menschen, auf die Lehre von den eingeborenen Ideen und auf die Gottesbeweise.
Auf diesem Weg wird der Cartesianismus in den Zusammenhang der älteren und neueren Metaphysik überführt: man ist bestrebt, ihn mit antiken, augustinischen und thomistischen Ideengut in Verbindung zu bringen. Descartes erhält eine zentrale Bedeutung bei der Auseinandersetzung gegen den englischen und französischen Empirismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die schottische Schule (Thomas Reid) und durch die spiritualistische Schule in Frankreich am Anfang des 19. Jahrhunderts (Victor Cousin).
Er wird hier zum Helden einer eklektischen Philosophie des "gesunden Menschenverstandes" (common sense) reduziert, in der aller möglicher Idealismus auf seine Kosten kommen kann. Seit Cousin gibt es einen Descartes-Mythos des französischen Bürgertums, das Gerede vom "ewigen Cartesianismus", dessen Wesensmerkmale der Klarheit, Vernünftigkeit und Mäßigkeit Ausdruck französischen Wesens seien.
Aber nicht nur der nachrevolutionäre französische, sondern allgemein der ganze neuzeitliche Idealismus leitet sich von Descartes her. Die Ursache dafür liegt in der Zurückführung des menschlichen Wesens auf ein radikaler als im Aristotelismus aus der Wesensverwandtschaft mit dem Materiellen gelöstes reines Denken. In diesem Sinne wird Descartes von Hegel als Beginn der neueren Philosophie gefeiert.
Zur Methodik bei Descartes: Intuition und Deduktion
Zur Einschätzung des Charakters der Seele bei Descartes
Zum Siegeszug des Cartesnianismus in Holland und Frankreich
Alle rationalistischen System des Westens basieren auf dem Cartesianismus
Zur Distanzierung der französischen Aufklärung gegenüber dem Cartesianismus
Zur Annäherung der katholischen Kirche an den Cartesianiusmus
Die Verbindung des "common sense" und des neuzeitlichen Idealismus zum Cartesianismus