Antisemitismus
Dieser Artikel befasst sich mit einer Unterform der allgemeinen Judenfeindlichkeit. Eine Übersicht über die gesamte Thematik gibt der Artikel zu Judenfeindlichkeit.Der Antisemitismus ist die moderne, seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Form der Judenfeindlichkeit, der seine generelle Abneigung gegen Juden, nicht mehr ausschließlich auf religiöse, sondern verstärkt auf rassistische Vorurteile stützt. Er richtet sich nicht nur gegen die Menschen, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehören, sondern auch gegen solche, die aufgrund ihrer Abstammung dem Judentum zugerechnet und von Antisemiten als Halb- oder Vierteljuden bezeichnet werden.
Wegen seiner von Vorurteilen geprägten Weltsicht gilt der Antisemitismus als Form der rassistischen Diskriminierung. Im wissenschaftlichen Diskurs der vergangenen Jahre wird der Begriff jedoch zunehmend als ein eigenständiges Phänomen behandelt.
Antisemiten versuchen ihre Vorurteile in der Regel mit sozialen, ökonomischen, nationalen, politischen, ethnischen und religiösen Argumenten zu legitimieren. So werden beispielsweise die - möglicherweise kritisierbaren - Handlungen einzelner Juden oder jüdischer Organisationen verallgemeinert und "den Juden" angelastet.
Es kennzeichnet die hermetische Weltsicht radikaler Antisemiten, dass sie sich selbst durch ihre Gegner in ihren Vorurteilen bestätigt sehen - beweist ihnen ein Antisemitismuskritiker doch schon durch seine bloße Existenz, dass er dem "Einfluss der Juden" erlegen ist.
In der Bundesrepublik Deutschland können antisemitische Äußerungen nach dem Paragraph § 130 des Strafgesetzbuches als "Volksverhetzung" verfolgt werden.
Die Entstehung des modernen Antisemitismus ist eng mit der des Nationalismus verbunden, wie er sich im Gefolge der Französischen Revolution herausbildete. Die Nation, wie sie von den Theoretikern der Revolution von 1789 verstanden wurde, umfasste die Masse des nichtadligen Volkes, des so genannten Dritten Standes. Sie stellte also den Gegenpol zu den privilegierten Ständen von Adel, hohem Klerus und Königtum dar. Diese demokratische Sichtweise wurde aber außerhalb Frankreichs, insbesondere in Deutschland, bald von einer völkischen Definition überlagert. Als Reaktion auf die napoleonischen Eroberungen wurde in vielen Ländern Europas die Idee von einer Nation geboren, die sich nicht von den jeweils herrschenden Schichten abgrenzte, sondern von anderen Nationen und Völkern. Dies richtete sich zunächst gegen die als Besatzer wahrgenommenen Franzosen, schließlich gegen die Angehörigen aller als fremd oder feindselig empfundenen Völker. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wurde von den Anhängern dieser Idee nicht als rein rechtlicher Status betrachtet, sondern von einer gemeinsamen "völkischen" Abstammung hergeleitet. Damit wiederum wurden eine Reihe spezifischer - mal positiver, mal negativer - Eigenschaften verbunden, aus denen sich ein angeblicher Nationalcharakter ergab.
Der rein religiös motivierte Antijudaismus verlor im Zuge der Aufklärung und der Entsetehung der modernen Wissenschaft immer mehr an Überzeugungskraft. Unter dem Einfluss des völkischen Nationalismus wandelte er sich aber gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zum rassistisch begründeten Antisemitismus, der sich scheinwissenschaftlicher Argumente bediente. Die Juden wurden nicht mehr als Religionsgemeinschaft betrachtet, sondern als ein eigenständiges Volk, das eine eigene Abstammung und bestimmte, von Antisemiten als negativ eingstufte Eigenschaften aufwies und nach ihrer Vorstellung einen Fremdkörper innerhalb der europäischen Nationen bildete. Der Verfolgung durch den religiös motivierten Antijudaismus konnte sich ein Jude - zumindset theoretisch - durch den Übertritt zum Christentum entziehen. Der rassistische Antisemitismus verschloss diese Möglichkeit, da er jeden als Juden definierte, der von Juden abstammte, gleichgültig ob und wie lange er oder seine Vorfahren schon Christen waren. Der Antisemitismus ging Hand in Hand mit der Ablehnung ander Minderheiten, die einer angeblich fremden Volksgruppe zugerechnet wurden. Dem Antiziganismus und dem Antisorabismus lagen die gleichen rassistischen Ideen wie dem Antisemitismus zugrunde.
Der Begriff "Antisemitismus" wurde erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von judenfeindlichen Gruppierungen in Deutschland verwandt. Sehr bald wurde der Begriff auch in anderen Kreisen und Sprachen übernommen, um die neue Form der Judenfeindlichkeit zu bezeichnen. Voraussetzung für die Wortbildung war die Entstehung und allgemeine Verbreitung des Begriffs "Semitismus".
Der Begriff Semiten stammt aus der theologisch-historischen Literatur des späten 18. Jahrhundert. Er fand wenige Jahre nach Einbürgerung in die Sprachwissenschaft auch Eingang in die Völkerkunde. Dies, obwohl die semitische Sprachfamilie und die als Nachkommen Sems genannten Völker (Völkertafel in 1. Mose 10) keineswegs identisch sind. Überdies ist die Völkertafel im wesentlichen geographisch orientiert. Das Siedlungsgebiet der Nachkommen Sems reicht von Westanatolien bis Persien und von Armenien bis zum Roten Meer. Diese Völker bilden jedoch keine geschlossene Gruppe im Sinne der Völkerkunde. Auch aus diesem Grund kann der Begriff Semiten im Ergebnis nur begrenzt auf die semitische Sprachfamilie Anwendung finden.
Gleichzeitig mit dem Begriff Semiten wurde der ebenfalls den Sprachwissenschaften entstammende Begriff Arier in die allgemeine Terminologie der Geisteswissenschaften aufgenommen. „Semiten“ und „Arier“ wurden einander auch als Volksgruppen gegenüber gestellt. Verschiedenartigkeit wurde bald als Verschiedenwertigkeit verstanden. Zwar wurden „Arier“ und „Semiten“ gegenüber anderen Volksgruppen herausgehoben. Alle positiv verstandenen Werte wurden jedoch den „Ariern“ zugeschrieben, während die „Semiten“ lediglich negativ charakterisiert wurden. „Arier“ galten als zur Herrschaft über die Welt berufene Bevölkerungsgruppe. Unter Berufung auf Joseph Arthur de Gobineau wurden beide Bevölkerungsgruppen überdies als biologische Abstammungseinheit („Rasse“) bezeichnet.
Zunehmend häufiger wurde der Begriff Semit auch für Juden verwandt. Insbesondere völkisch-rassische Judengegner verwendeten nun den Begriff Semiten. Hierdurch sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die Judenfrage als Rassenfrage zu betrachten sei. Dieser neue Wortgebrauch blieb zunächst unreflektiert. 1879 erklärte jedoch der jüdische Historiker Harry Breßlau, dass die Begriffe Jude und Semit nicht deckungsgleich seien und er den Begriff Semit daher auch nicht in diesem Sinne verwenden wolle. Stattdessen werde er weiterhin den Begriff Jude verwenden; dies jedoch lediglich als Bezeichnung der Abkunft und nicht der Religionszugehörigkeit von Juden: „Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.“ Im Brockhaus des Jahres 1895 wurde „Semitismus“ als „eine Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum“ definiert. Die säkularisierten Begriffe Jude und Judentum, ihrer religiösen Bedeutung entledigt, erfuhren somit eine sprachliche Gleichsetzung mit den Begriffen Semit und Semitismus.
In der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Umbrüchen bei der Bildung einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft wurden die beiden Bezeichnungen häufig auch im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Mangel an „wahrem Deutschtum“ im Reich von 1871 verwandt. Insbesondere der Begriff Semitismus wurde Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prinzipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft.
Der Ausdruck Antijudaismus wurde eingeführt, um zwischen dem nationalistischem Antisemitismus und weiter zurück reichenden, religiösen Judenhass zu unterscheiden. Die Religionszugehörigkeit spielt für einen Antisemiten nur eine indirekte Rolle, da er Jude über die Abstammung von Vorfahren mit jüdischer Religion definiert und so Jude zu einem unentrinnbaren pseudobiologischen Merkmal wird. Anders dagegen in einem Teil des christlichen Antijudaismus, hier kann der Übertritt eines Juden zum Christentum diesen in einen Christen verwandeln, wobei häufig Vorbehalte besonders bei Zwangstaufen bestanden.
Sowohl Antisemitismus als auch Antijudaismus bezeichnen Hass auf Juden. Ersterer ist viel geläufiger und wird umgangssprachlich fälschlich mit Antijudaismus synonym verwendet.
Das Wort antisemitisch ist bereits 1865 im Rotteck/Welckerschen Staatslexikon zu finden, wo das Königtum unter den Juden als eine „antisemitische Geburt“ bezeichnet wurde. Es handelte sich jedoch um eine eher zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die der im selben Jahr im Staatswörterbuch von Bluntschli/Brater zu findenden Formulierung „unsemitisch“ entspricht. Bereits 1860 hatte der jüdische Gelehrte Moritz Steinschneider den französischen Historiker und Philologen Ernest Renan wegen seiner „antisemitischen Vorurteile“ zur Rede gestellt. Der erste publizistische Beleg für die Neubildung des Wortes Antisemitismus findet sich in der „Allgemeinen Zeitung des deutschen Judentums“ vom 2. September 1879, in der die Ankündigung eines „antisemitischen Wochenblatts“ durch Wilhelm Marr erwähnt wurde.
Marr, der seither in der Forschungsliteratur als Schöpfer des Begriffs Antisemitismus angeführt wird, hatte hingegen „nur“ eine sozialpolitische beziehungsweise antijüdische Wochenschrift angekündigt, nicht eine „antisemitische“. Der Austausch der Bezeichnungen erfolgte durch die Zeitungsredaktion. Anzunehmen ist, dass das Modewort dieser Zeit viele Väter hat und die Wortkombination aus „Anti“ und dem verbreiteten Wort Semitismus nicht allzu fern lag. Marr selbst benutzte den Begriff antisemitisch erst ab 1880. Der Begriff wurde von ihm weder definiert noch kommentiert, eine programmatische Einführung fehlt ebenfalls.
Ende September 1879 rief Marr zur Gründung der „Antisemiten-Liga“ auf. Der Name suggerierte eine Sammlungsbewegung gegen „Semiten“. Die Parteigründung hat sicherlich zur Popularität des Terminus Antisemitismus beigetragen, da dieser von nun an in zahllosen Pamphleten verwendet wurde. Aber auch die „Antisemiten-Petition“ von 1880/81, die von 250.000 Bürgern unterzeichnet wurde und Standardforderungen der antisemitischen Propaganda enthielt, so beispielsweise die Forderung nach Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern , half das Schlagwort Antisemitismus im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten.
Ab 1881 wurde es als Sammelbegriff aller Arten und Ausprägungen judenfeindlicher politischer Haltungen und Handlungen verwendet, die zum "Berliner Antisemitismusstreit" führten. Zu dessen Protagonisten gehörte der konservative, preußische Historiker Heinrich von Treitschke, der den verhängnisvollen, später von den Nationalsozialisten übernommenen Satz prägte: "Die Juden sind unser Unglück." Ihm trat insbesondere der Historiker Theodor Mommsen entgegen, der sich scharf gegen die Judenfeindschaft wandte.
Definition und Funktion des Begriffs Antisemitismus sind heute in der Wissenschaft heftig umstritten. Eine eindeutige Inhaltsbestimmung hat bislang nicht stattgefunden. Teilweise werden die Begriffe Antisemitismus, Antijudaismus und Judenfeindschaft'\' wechselseitig verwendet. Andere Autoren subsumieren ohne zeitliche Differenzierung unter den Begriff Antisemitismus alle negativen Impulse gegen Juden, gelegentlich auch unter Verwendung von Attributen wie vormodern, religiös oder rassisch''.
Nach Wolfgang Benz bedeutet Antisemitismus heute „die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven“. Antisemitismus werde „als ein gesellschaftliches Phänomen verstanden, das als Paradigma für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder dient.“
Da der Begriff Antisemitismus grundsätzlich die Existenz einer mit den Juden identischen semitischen Rasse suggeriert, sollte er lediglich für die Periode verwandt werden, in der die Bewegung, die sich selbst so bezeichnete, entstanden ist und sich entfaltete. Alle anderen judenfeindlichen Entwicklungen und Ereignisse sollten mit den hierfür durchaus vorhandenen spezifischen Begrifflichkeiten, die überdies den semantischen Bezug auf „Semitismus“, der auch Nichtjuden umfasst, vermeiden, bezeichnet werden.
Aktuelle „antisemitische“ Äußerungen, Handlungen und Entwicklungen sollten heute als das bezeichnet werden, was sie tatsächlich sind: Angriffe gegen jüdische Mitmenschen und damit judenfeindliche Akte.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts belegte der Begriff Antisemitismus vor allen Dingen eine parteipolitisch orientierte Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Mit dem Aufkommen von darwinistischen Argumentationsketten gab sich der Antisemitismus im Gefolge von rassistschen Evolutionstheorien eine zunehmend biologistische Ausrichtung. Es war fortan nicht mehr die Rede von gesellschaftlichen Einflüssen des verhassten Judentums, sondern von der Zersetzungskraft jüdischen Blutes.
1924 verfasste Adolf Hitler in der Festungshaft sein autobiografisches und programmatisches Buch Mein Kampf, in welchem er sich freimütig zum Antisemitismus bekennt (Hitler selber bezeichnet sich als Schüler des Wiener Bürgermeisters und antisemitischen Publizisten Karl Lueger) und eine Strategie entwickelt, den Antisemitismus politisch und militärisch mit dem Ziel der Vernichtung der Juden durchzusetzen. Dieser ist konstituierendes Element der Ideologie des Nationalsozialismus.
Die Nationalsozialisten gaben dem Antisemitismus unter ihrem Regime eine zuvor nicht vorhandene Virulenz, die über die Nürnberger Gesetze bis zur Planung und Durchführung der so genannten Endlösung der Judenfrage führte. Diese industriell organisierte Vernichtung des europäischen Judentums, die Shoa (Holocaust), forderte über 6 Millionen Opfer.
Keine praktische Bedeutung in Bezug auf die Intensität der antisemitischen Durchdringung nationalsozialistischer Ideologie und Politik hatte die im Mai 1943 dekretierte Abwendung vom Begriff Antisemitismus. Die durch den Nazi-Ideologen Rosenberg initiierte neue offizielle Sprachregelung zielte darauf ab, neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man werfe Araber mit den Juden in einen Topf. [1] Durch die nunmehr ausbleibende antisemitische Selbstbezeichnung der Nazis erfuhren die verfolgten Juden allerdings keinerlei Linderung. Aus der Sicht der Nachwelt steht das deutsche Nazi-Regime - auch bei taktischer Meidung der expliziten antisemitischen Selbstbenennung ab 1943 - für den unvermindert mörderischsten Antisemitismus der Zivilisationsgeschichte.
Zum Begriff
Entstehung
Die Bezeichnung "Semiten"
Unterschied zum Antijudaismus
Verbreitung
Inhaltsbestimmung
Antisemitismus und Nationalsozialismus
Literatur
ANTISEMITICAWeblinks
Beurteilung:
Dieser Artikel stellt nur die Situation in Deutschland dar. Es fehlen noch allgemeine Definitionen und/oder Informationen zu anderen (deutschsprachigen) Ländern.